Brunetti 02 - Endstation Venedig
duckte sich instinktiv unter den Steg. Dabei kamen die Steine und Backsteinstücke unter ihm ins Rutschen und machten einen geradezu ohrenbetäubenden Lärm. Er hockte da, den Rücken an der glitschigen Mauer des Arsenale. Wieder die Schritte, jetzt unmittelbar über seinem Kopf. Er zog seine Pistole.
»Brunetti?«
Seine Panik ebbte ab, als er die vertraute Stimme hörte. »Vianello«, sagte Brunetti und kroch unter dem Steg hervor, »was zum Teufel machen Sie denn hier?«
Über ihm tauchte Vianellos Kopf auf. Er stand über das Geländer gebeugt und blickte auf Brunetti und das abfallübersäte Stückchen Strand herunter.
»Ich bin schon seit einer Viertelstunde hinter Ihnen, Commissario, seit Sie an der Kirche vorbeigegangen sind.« Brunetti hatte nichts gesehen und nichts gehört, obwohl er geglaubt hatte, ganz Auge und Ohr zu sein.
»Haben Sie irgend jemanden gesehen?«
»Nein. Ich war drüben und habe den Fahrplan am Anleger studiert, wie wenn ich das letzte Boot verpaßt hätte und nicht kapieren würde, wann das nächste kommt. Ich meine, ich brauchte ja einen Grund, mich um diese Zeit hier herumzutreiben.« Vianello hielt plötzlich inne, und Brunetti wußte, daß er das Bein gesehen hatte, das unter dem Steg hervorschaute.
»Ist das Ruffolo?« fragte er überrascht. Das sah einfach zu sehr nach Hollywood aus.
»Ja.« Brunetti trat von der Leiche zurück und stellte sich wieder direkt unter Vianello.
»Was ist denn passiert, Commissario?«
»Er ist tot. Sieht aus wie gestürzt.« Brunetti verzog das Gesicht ob dieser präzisen Schilderung. Ja, genau so sah es aus.
Der Polizist kniete sich hin und streckte Brunetti die Hand hin. »Soll ich Sie hochziehen?«
Brunetti sah auf die ausgestreckte Hand, dann auf Ruffolos Bein. »Nein, Vianello, ich bleibe hier bei ihm. Am Celestia-Anleger ist ein Telefon. Rufen Sie ein Boot.« Vianello machte sich eilig auf den Weg, und Brunetti staunte über den Lärm seiner Schritte, der den Raum unter dem Steg ganz auszufüllen schien. Wie leise er gekommen sein mußte, da Brunetti ihn nicht gehört hatte, bevor er unmittelbar über ihm war.
Wieder allein, nahm Brunetti erneut seine Taschenlampe und beugte sich über Ruffolo, der einen dicken Pullover und keine Jacke trug. Die einzigen Taschen waren also die in seinen Jeans. In der Gesäßtasche steckte eine Brieftasche. Sie enthielt das Übliche: Ausweis (Ruffolo war erst 26), Führerschein (als Nichtvenezianer besaß er einen), zwanzigtausend Lire sowie das gewohnte Sortiment von Plastikkarten und Zetteln mit Telefonnummern. Er würde sich das später ansehen. Eine Armbanduhr trug er auch, aber er hatte kein Kleingeld in den Taschen. Brunetti steckte die Brieftasche zurück und wandte sich ab. Er blickte über das schimmernde Wasser, hinüber zu den Lichtern von Murano und Burano. Sanft spielte das Mondlicht auf der Lagune, und kein Boot störte das friedliche Bild.
Ein glitzernder Silberstreifen verband die Inselstadt mit den vorgelagerten Inseln. Brunetti fühlte sich an etwas erinnert, was Paola ihm einmal vorgelesen hatte, an dem Abend, als sie ihm erzahlte, daß sie mit Raffaele schwanger sei. Es war etwas Englisches gewesen, etwas über Gold, zu feiner Zartheit geschlagen. Nein, luftiger Zartheit. Und noch etwas mit »der zweien Seelen Eines«, das sei ihre Liebe. Damals hatte er es nicht so recht verstanden und war auch viel zu aufgeregt über die Neuigkeit gewesen, um sich darum zu bemühen. Aber jetzt, da das Mondlicht auf der Lagune lag wie zu luftiger Zartheit geschlagenes Silber, kam ihm dieses Bild in den Sinn. Und Ruffolo, dieser arme, dumme Kerl, lag tot zu seinen Füßen.
Man hörte das Boot schon von weitem, und dann kam es mit seinem blauen Blinklicht aus dem Rio di Santa Giustina geschossen. Er knipste die Taschenlampe an und hielt sie als Richtungsweiser hoch, damit es den Strand besser fand. Es kam so dicht wie möglich heran, und die beiden Polizisten zogen hohe Stiefel an und kamen durchs flache Wasser zur Insel gewatet. Sie brachten Brunetti auch ein Paar Stiefel mit, die er sich über Schuhe und Hosenbeine zog. Er wartete an dem schmalen Strand, bis auch die anderen da waren, hier gefangen mit Ruffolo, der Gegenwart des Todes und dem Geruch nach modrigem Seetang.
Bis sie die Leiche fotografiert und weggebracht und dann auf der Questura einen ausführlichen Bericht geschrieben hatten, war es drei Uhr früh. Brunetti wollte gerade nach Hause gehen, als Vianello hereinkam und ihm ein
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