Brunetti 02 - Endstation Venedig
anrufen.
Und Ruffolo war also draußen und wieder im Geschäft. Als Gelegenheitsdieb und Einbrecher hatte er in den letzten zehn Jahren immer wieder im Gefängnis gesessen, zweimal mit Brunettis Zutun. Seine Eltern waren vor Jahren aus Neapel hergezogen und hatten dieses Früchtchen mitgebracht. Sein Vater hatte sich zu Tode gesoffen, nicht ohne seinem einzigen Sohn vorher eingetrichtert zu haben, daß etwas so Gewöhnliches wie Arbeiten oder Handel treiben nicht Sache der Ruffolos war, nicht einmal Studieren. Und als echter Apfel vom väterlichen Stamm hatte Giuseppe nie gearbeitet, gehandelt höchstens mit Diebesgut und nur studiert, wie man Schlösser knackte und in anderer Leute Hauser kam. Wenn er so kurz nach seiner Entlassung schon wieder bei der Arbeit war, konnten seine zwei Jahre Gefängnis keine vergeudete Zeit gewesen sein.
Aber ob Brunetti wollte oder nicht, er mochte die beiden, Mutter und Sohn. Peppino schien es ihm nicht persönlich übelzunehmen, daß er ihn festgenommen hatte, und Signora Concetta war, nachdem der Zwischenfall mit der Zickzackschere einmal vergessen war, Brunetti dankbar für seine Aussage im Prozeß gegen ihren Sohn, daß Ruffolo bei seinen Taten nämlich stets auf Gewalt oder die Androhung von Gewalt verzichtet habe. Seine Verurteilung wegen Einbruchs hatte wahrscheinlich darum nur auf zwei Jahre gelautet.
Brunetti brauchte sich Ruffolos Akte nicht aus dem Archiv kommen zu lassen. Er würde früher oder später bei seiner Mutter auftauchen, oder bei Ivana, und bald würde Giuseppe wieder im Knast sitzen, um dort ein noch versierterer Verbrecher zu werden, noch sicherer auf der schiefen Bahn zu bleiben.
Sowie Brunetti in seinem Büro war, suchte er Rizzardis Autopsiebericht über den jungen Amerikaner. Bei ihrem Gespräch hatte der Pathologe nichts über Spuren von Drogen im Blut gesagt, und Brunetti hatte zu dem Zeitpunkt nicht direkt danach gefragt. Er fand den Bericht, öffnete den Umschlag und blätterte ihn durch. Wie Rizzardi angedroht hatte, war die Sprache nahezu unentwirrbar. Auf der zweiten Seite fand er, was seiner Ansicht nach die Antwort sein konnte, obwohl es schwer zu sagen war bei all den langen lateinischen Fachbegriffen und dem vergewaltigten Satzbau. Er las es dreimal durch, und am Ende glaubte er einigermaßen sicher daraus entnommen zu haben, daß im Blut des Toten keinerlei Spuren von Drogen gefunden worden waren. Er wäre auch überrascht gewesen, wenn die Autopsie etwas anderes ergeben hatte.
Seine Gegensprechanlage summte. Er antwortete prompt mit: »Ja, Vice-Questore?«
Patta machte sich nicht die Mühe nachzufragen, woher er wußte, wer am Apparat war - ein sicheres Zeichen dafür, daß er in einer wichtigen Angelegenheit anrief. »Ich möchte mit Ihnen sprechen, Commissario.« Auch die Anrede mit seinem Dienstgrad unter Weglassung des Namens unterstrich die Wichtigkeit.
Brunetti widerstand der Versuchung, Patta darauf hinzuweisen, daß er bereits mit ihm sprach, und sagte statt dessen, er werde sofort ins Büro des Vice-Questore herunterkommen. Patta war ein Mann, der nur eine begrenzte Auswahl an Stimmungen zur Verfügung hatte, die man ihm vom Gesicht ablesen konnte, und hier mußte Brunetti sehr genau lesen.
Als er in Pattas Büro trat, fand Brunetti seinen Vorgesetzten mit vor sich gefalteten Händen hinter einem leeren Schreibtisch sitzen. Gewöhnlich gab Patta sich gern geschäftig, und wenn er nur einen leeren Ordner vor sich liegen hatte. Heute nichts von alledem, nur ein ernstes, ja sogar feierliches Gesicht und die gefalteten Hände. Dazu entströmte ihm der herbe Duft eines Eau de Cologne, das sich keinem Geschlecht zuordnen ließ, und sein Gesicht wirkte an diesem Morgen eher eingeölt als rasiert. Brunetti ging zum Schreibtisch und blieb davor stehen, wobei er überlegte, wie lange Patta wohl sein Schweigen ausdehnen würde, eine Technik, die er oft anwandte, wenn er die Wichtigkeit dessen, was er zu sagen hatte, besonders betonen wollte.
Endlich sagte Patta: »Setzen Sie sich, Commissario.«
Die erneute Anrede mit seinem Dienstgrad sagte Brunetti, daß er etwas in irgendeiner Weise Unangenehmes zu hören bekommen würde und daß Patta dies auch wußte.
»Ich möchte über diesen Raubüberfall mit Ihnen sprechen«, begann Patta ohne weitere Vorrede, sowie Brunetti saß.
Brunetti hatte den Verdacht, daß er nicht den jüngsten Einbruch am Canal Grande meinte, auch wenn das Opfer ein Industrieller aus Mailand war. Normalerweise
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