Brunetti 04 - Vendetta
Elettra - auch alle anderen Adjektive, die sich für sie anboten, fielen in das Umfeld von Licht und Sichtbarkeit - nie mit der ruhigen, zurückhaltenden Ärztin in Verbindung gebracht, zu deren Patienten sein Schwiegervater zählte und offenbar auch Signora Trevisan.
»War Patientin?« fragte Brunetti, der seine Überlegungen zu Elettras Familie lieber auf später verschieben wollte.
»Ja, bis vor etwa einem Jahr. Sie und ihre Tochter, beide waren Patientinnen. Aber eines Tages kam sie in Barbaras Praxis und machte irgendwie eine Szene, wollte wissen, weswegen Barbara ihre Tochter behandelte.«
Brunetti hörte zu, stellte aber keine Fragen.
»Die Tochter war erst vierzehn, aber als Barbara sich weigerte, ihr Auskunft zu geben, behauptete Signora Trevisan, Barbara habe eine Abtreibung vorgenommen oder sie zu diesem Zweck ins Krankenhaus geschickt. Sie hat herumgeschrien und schließlich eine Zeitschrift nach ihr geworfen.«
»Nach Ihrer Schwester?«
»Ja.«
»Und was hat sie gemacht?«
»Wer?«
»Ihre Schwester.«
»Sie hat sie aufgefordert, die Praxis zu verlassen. Das hat sie dann nach weiterem Herumschreien getan.«
»Und dann?«
»Am nächsten Tag hat Barbara ihr per Einschreiben die Krankenunterlagen geschickt und ihr empfohlen, sich einen anderen Arzt zu suchen.«
»Und die Tochter?«
»Die ist auch nicht mehr gekommen. Aber Barbara ist ihr auf der Straße begegnet, wo das Mädchen ihr erzählte, die Mutter habe ihr verboten, weiter zu ihr zu gehen. Sie habe sie in eine Privatklinik gebracht.«
»Weswegen war die Tochter denn in Behandlung?«
Er sah Signorina Elettra ihre Antwort abwägen. Sie kam aber rasch zu dem Schluß, daß Brunetti es sowieso herausbekommen würde, und sagte: »Es war eine Geschlechtskrankheit.«
»Welche?«
»Das weiß ich nicht mehr. Da müssen Sie meine Schwester fragen.«
»Oder Signora Trevisan.«
Elettra antwortete rasch und böse: »Wenn die je erfahren hat, was es war, dann jedenfalls nicht von Barbara.«
Brunetti glaubte ihr das ohne weiteres. »Die Tochter ist jetzt also etwa fünfzehn?«
Elettra nickte. »Müßte hinkommen.«
Brunetti dachte kurz nach. Das Gesetz war hier etwas unklar - wann war es das nicht? Ein Arzt mußte keine Auskunft über die Krankheiten eines Patienten geben, aber es war ihm doch sicher freigestellt, darüber zu reden, wie ein Patient sich verhalten hatte, besonders in einer Situation, in der es nicht um die eigene Gesundheit ging. Besser, er sprach selbst mit der Ärztin, als Elettra zu bitten, es für ihn zu tun. »Hat Ihre Schwester noch dieselbe Praxis in der Nähe von San Barnaba?«
»Ja. Sie wird heute nachmittag auch dort sein. Soll ich ihr sagen, daß Sie kommen?«
»Heißt das, Sie sagen ihr nichts davon, wenn ich Sie nicht darum bitte?«
Sie blickte auf die Tastatur ihres Computers, fand dort offenbar die gewünschte Antwort und sah wieder Brunetti an. »Es spielt ja keine Rolle, Commissario. Sie hat nichts verbrochen. Gut, ich sage ihr also nichts.«
Die Neugier ließ ihn fragen: »Und wenn es denn eine Rolle spielte? Wenn sie etwas verbrochen hätte?«
»Wenn es ihr helfen könnte, würde ich sie warnen. Selbstverständlich.«
»Auch wenn Sie damit ein Dienstgeheimnis verraten müßten, Signorina?« fragte er, lächelte aber dann, um ihr zu zeigen, daß er nur Spaß machte, obwohl das nicht stimmte.
Sie sah ihn verständnislos an. »Glauben Sie, Dienstgeheimnisse würden auch nur die allerkleinste Rolle spielen, wenn es um meine Familie ginge?«
Ernüchtert antwortete er: »Nein, Signorina. Sicher nicht.«
Signorina Elettra lächelte, sichtlich froh, dem Commissario wieder einmal zu einer Einsicht verhelfen zu haben.
»Wissen Sie sonst noch etwas über die Frau« - er korrigierte sich - »die Witwe?«
»Nein, nicht unmittelbar. Ich habe natürlich in der Zeitung über sie gelesen. Ständig für irgendwelche guten Zwecke aktiv«, sagte sie mit übertriebener Betonung. »Sie wissen schon: Lebensmittelsendungen nach Somalia, die dann gestohlen, nach Albanien geschickt und dort verkauft werden. Oder diese Galakonzerte im La Fenice, die immer höchstens die Ausgaben decken und den Organisatoren Gelegenheit geben, sich herauszuputzen und sich vor ihren Freunden zu brüsten. Es erstaunt mich, daß Sie nicht wissen, wer sie ist.«
»So ganz entfernt kommt mir ihr Name bekannt vor, mehr aber auch nicht. Und der Mann?«
»Internationales Recht, soviel ich weiß, und sehr gut darin. Ich glaube, ich habe mal etwas
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