Brunetti 04 - Vendetta
Richtungen gebildet hatten, weil die durch die Straßenverhältnisse schon vorsichtig gewordenen Verkehrsteilnehmer noch langsamer fuhren, um durch das große Loch in der eisernen Leitplanke nach unten zu gaffen, dahin, wo die Lkw-Leiche lag. Zwischen den anderen Leichen.
Sowie der erste Beamte, der nicht verstehen konnte, was die Lastwagenfahrer ihm zuriefen, die verstümmelten Leiber neben dem Wrack sah, kletterte er den Hang wieder hinauf und rief über Funk die Carabinieristation in Tarvisio an. Die Reaktion auf seinen Hilferuf kam rasch, und schon bald vergrößerte sich das Verkehrschaos durch die Ankunft zweier Wagen mit sechs schwarzuniformierten Carabinieri. Sie stellten ihre Autos auf den Randstreifen und schlitterten den Hang hinunter zu dem Laster. Als sie feststellten, daß die Frau, deren Beine unter den Brettern auf der Ladefläche eingeklemmt waren, noch lebte, verloren die Carabinieri sofort jedes Interesse an der Verkehrslage.
Die nun folgende Szene war so wirr, daß sie hätte komisch sein können, wäre sie nicht so absurd gewesen. Der Bretterstapel auf den Beinen der Frau war mindestens zwei Meter hoch; man hätte ihn leicht mit einem Kran hochheben können, aber es war nicht möglich, einen Kran den Hang hinunterzubringen. Natürlich konnten die Männer den Stapel abräumen, aber dazu hätten sie daraufsteigen müssen und hätten sein Gewicht nur noch vergrößert.
Der jüngste der Carabinieri-Offiziere kauerte, fröstelnd in der bitteren Kälte der nahenden Bergnacht, hinter dem Lastwagen. Seine wattierte Uniformjacke war über den sichtbaren Teil der eingeklemmten Frauengestalt gebreitet. Ihre Beine verschwanden von den Oberschenkeln abwärts in einem kompakten Holzstapel wie auf einem besonders wunderlichen Gemälde von Magritte.
Er sah, daß sie jung und blond war, aber er sah auch, daß sie seit seiner Ankunft schon merklich blasser geworden war. Sie lag auf der Seite, die Wange auf den Wellblechboden des Lasters gepreßt. Ihre Augen waren geschlossen, doch sie schien noch zu atmen.
Hinter sich hörte er etwas Schweres auf den Wagenboden fallen. Die anderen fünf Männer krochen wie die Ameisen auf beiden Seiten des Bretterstapels entlang und zerrten an den einzelnen Packen, um ihn von oben her abzutragen. Immer wenn sie wieder einen abgeworfen hatten, sprangen sie hinterher, hoben ihn auf und wuchteten ihn durch die Hecktür hinaus, vorbei an dem Mädchen und dem jungen Monelli.
Und jedesmal, wenn sie an Monelli vorbeikamen, sahen sie, daß die Blutlache, die unter den Brettern hervorquoll, wieder etwas näher an seine Knie heranreichte. Dennoch zerrten sie weiter an den Brettern herum, rissen sich die Hände auf, zeitweise wie von Sinnen in ihrem Drang, das Mädchen zu befreien. Selbst nachdem Monelli schon seine Jacke über das Gesicht des Mädchens gezogen hatte und aufgestanden war, rissen zwei von ihnen noch Bretter von dem Stapel und schleuderten sie hinaus in die zunehmende Dunkelheit. Sie fuhren damit fort, bis ihr Sergente zu jedem einzelnen hinging und ihm die Hand auf die Schulter legte, um ihm zu bedeuten, daß er jetzt aufhören könne. Da wurden sie ruhiger und widmeten sich ihrer Routinearbeit der Unfallaufnahme. Bis sie damit fertig waren und in Tarvisio Krankenwagen angefordert hatten, um die Toten wegzubringen, war weiterer Schnee gefallen; mittlerweile war es ganz dunkel, und der Verkehrsstau reichte bis zur Grenze nach Österreich.
Man konnte bis zum nächsten Morgen nichts mehr tun, aber die Carabinieri stellten sicherheitshalber zwei Posten auf, denn sie wußten um die Faszination, die für manche Menschen von einem Ort des Todes ausgeht, und fürchteten, daß Spuren vernichtet oder Beweisstücke entwendet werden könnten, wenn das Wrack über Nacht unbewacht blieb.
Die Morgendämmerung zog, wie oft in dieser Jahreszeit, mit rosigen Wölkchen herauf, und gegen zehn Uhr war der Schnee nur noch eine Erinnerung. Doch das Wrack des Lastwagens blieb, ebenso die tiefen Schürfwunden, die zu ihm hinunterführten. Im Laufe des Tages wurde die Ladung geborgen und in einiger Entfernung aufgestapelt. Während die Carabinieri damit beschäftigt waren, schimpfend über die Schwerarbeit, die Holzsplitter und den Morast unter ihren Stiefeln, machte ein Spurensicherungsteam sich über die Fahrerkabine her, nahm Fingerabdrücke und steckte alle Papiere und sonstigen Gegenstände in etikettierte und numerierte Plastikbeutel. Der Fahrersitz war durch die Wucht des letzten
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