Brunetti 04 - Vendetta
überhaupt jemand? Am Tag, nachdem er umgebracht wurde?«
»Das festzustellen wäre ja auch interessant«, entgegnete Brunetti. »Signorina Elettra meint, sie hätte mal etwas über seine Beteiligung an irgendeinem Geschäft mit Polen gelesen, oder vielleicht war es auch Tschechien. Sehen Sie, ob Sie darüber etwas herausbekommen. Sie glaubt, es habe in der Zeitung gestanden, weiß aber nicht mehr, um was es ging. Und fragen Sie das Übliche.« Sie arbeiteten schon so lange zusammen, daß Brunetti dieses Übliche nicht näher erläutern mußte: Ein vergrätzter Angestellter, ein erzürnter Geschäftspartner, ein eifersüchtiger Ehemann, die eigene eifersüchtige Frau. Vianello hatte die Gabe, Menschen zum Reden zu bringen. Besonders wenn sie Venezianer waren, erwärmten seine Gesprächspartner sich unfehlbar für diesen großen, liebenswürdigen Mann, der so offensichtlich nur widerstrebend richtiges Italienisch sprach und nur allzugern in ihren gemeinsamen Dialekt verfiel - ein Sprachwechsel, der die Sprecher oft zu unbewußten Enthüllungen verführte.
»Noch etwas, Commissario?«
»Ja. Ich habe heute vormittag zu tun, und heute nachmittag will ich versuchen, mit der Witwe zu reden; schicken Sie also bitte jemanden zum Bahnhof, der mit der Schaffnerin sprechen soll, die den Toten gefunden hat. Versuchen Sie auch zu erfahren, ob die anderen Schaffner im Zug etwas gesehen haben.« Bevor Vianello noch seinen Einwand anbringen konnte, sagte Brunetti: »Ich weiß, ich weiß. Wenn ihnen etwas aufgefallen wäre, hätten sie das schon gesagt. Aber ich möchte trotzdem, daß sie noch einmal befragt werden.«
»Ja, Commissario.«
»Außerdem hätte ich gern eine Liste mit den Namen und Adressen aller Leute, die im Zug waren, als er anhielt, sowie eine Abschrift aller Aussagen, die sie bei der Vernehmung gemacht haben.«
»Warum hat man ihn wohl nicht ausgeraubt?«
»Falls Raub das Tatmotiv war, könnte jemand durch den Gang gekommen sein und den Täter vertrieben haben, bevor er Zeit hatte, die Leiche zu durchsuchen. Oder der Täter wollte uns deutlich klarmachen, daß es nicht um Raub ging.«
»Das klingt kaum plausibel, meinen Sie nicht?« fragte Vianello. »Wäre es für den Täter nicht besser, uns an einen Raubmord glauben zu lassen?«
»Das kommt auf sein wahres Motiv an.«
Vianello überlegte kurz, bevor er antwortete: »Ja, wahrscheinlich«, aber an seinem Ton hörte man, daß er nicht ganz überzeugt war. Warum sollte jemand der Polizei einen derartigen Vorteil verschaffen wollen?
Vianello, dem nicht danach war, darüber allzulange nachzugrübeln, stand auf. »Also, dann gehe ich jetzt zu seiner Kanzlei, Commissario«, sagte er. »Mal sehen, was ich da erfahre. Sind Sie heute nachmittag wieder hier?«
»Wahrscheinlich. Je nachdem, wann ich mit der Witwe reden kann. Ich hinterlasse eine Nachricht.«
»Gut. Dann sehen wir uns später«, sagte Vianello, schon auf dem Weg nach draußen.
Brunetti wandte sich wieder der Akte zu und suchte Trevisans Telefonnummer heraus. Er wählte. Es klingelte zehnmal, bevor jemand abnahm.
»Pronto«, sagte eine Männerstimme.
»Bin ich mit der Wohnung des Avvocato Trevisan verbunden?« fragte Brunetti.
»Wer spricht da, bitte?«
»Hier ist Commissario Guido Brunetti. Ich möchte bitte Signora Trevisan sprechen.«
»Meine Schwester kann nicht ans Telefon kommen.«
Brunetti blätterte in der Akte zurück, bis er Signora Trevisans Mädchennamen fand, und sagte: »Signor Lotto, ich bedaure, Sie ausgerechnet jetzt zu belästigen, und erst recht Ihre Schwester, aber es ist unumgänglich, ich muß so bald als möglich mit ihr sprechen.«
»Das ist leider unmöglich, Commissario. Meine Schwester hat starke Beruhigungsmittel bekommen und kann mit niemandem sprechen. Sie ist völlig am Ende.«
»Ich kann mir vorstellen, wie schmerzlich das alles für sie sein muß, Signor Lotto; ich darf Ihnen mein tiefempfundenes Beileid aussprechen. Aber wir müssen vor Beginn unserer Ermittlungen mit einem Familienmitglied sprechen.«
»Was müssen Sie denn wissen?«
»Wir brauchen ein klareres Bild von Avvocato Trevisans Leben, seinen beruflichen Unternehmungen, seinen Partnern. Solange wir darüber nichts wissen, können wir uns keine Vorstellung von den Motiven für diese Tat machen.«
»Ich denke, es war Raubmord«, sagte Lotto.
»Ihm ist nichts gestohlen worden.«
»Aber es gab keinen anderen Grund, meinen Schwager umzubringen. Der Dieb muß gestört worden sein.«
»Das ist
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