Brunetti 05 - Acqua alta
mußte das aufgequollene Holz mit Gewalt über das Pflaster reißen. Vor dem hellen Licht auf dem Hof bot er für jeden, der in dem dunklen Lagerraum lauerte, ein ideales Ziel, aber daran dachte er nicht.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis seine Augen sich an das Dunkel da drin gewöhnt hatten, dann sah er La Capra bis zur Taille im Wasser knien, vornübergebeugt zu einer männlichen Pietà, die das, was Brunetti vorhin auf dem Hof gesehen hatte, auf groteske Weise imitierte. Allerdings kam diese der Wahrheit näher, denn hier trauerte ein Vater, wenn schon keine Mutter, über der Leiche des einzigen Sohnes.
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Brunetti öffnete die Tür zu seinem Dienstzimmer, stellte fest, daß die Temperatur angenehm, die Heizung stumm war, und schickte dem heiligen Leander ein stilles Dankgebet, auch wenn es schon Wochen her war, daß er sein alljährliches Wunder gewirkt hatte. Es gab noch andere Frühlingszeichen: Zu Hause hatte er am Morgen gesehen, daß die Stiefmütterchen auf der Dachterrasse sich durch die winterharte Erde in ihren Blumentöpfen kämpften, und Paola hatte gemeint, sie müßten dieses Wochenende umgepflanzt werden; der Holztisch stand auch draußen, mit wurmfreien Beinen und sonnenwarm; heute früh hatte er außerdem die ersten der schwarzköpfigen Möwen gesehen, die jedes Jahr einen kurzen Frühlingsurlaub auf dem Wasser der Kanäle verbrachten, bevor sie sonstwohin weiterzogen; und in der Luft lag plötzlich etwas Mildes, das wie eine Segnung über die Inseln und die Wasser wehte.
Er hängte seinen Mantel in den Schrank und ging an den Schreibtisch, wandte sich aber gleich wieder ab und stellte sich ans Fenster. Es tat sich heute etwas auf dem Gerüst von San Lorenzo; Männer stiegen die Leitern hinauf und hinunter und kraxelten auf dem Dach herum. Im Gegensatz zum machtvollen Aufbruch der Natur waren alle diese menschlichen Aktivitäten, das wußte Brunetti, nichts weiter als ein falscher Frühling und würden rasch wieder enden, spätestens mit der Erneuerung der Verträge.
Er blieb eine Weile am Fenster stehen, bis er durch Signorina Elettras munteres buon giorno abgelenkt wurde. Sie trug heute Gelb, ein weich fallendes Seidenkleid, das ihre Knie umspielte, dazu so spitze Absätze, daß er froh war, kein Parkett, sondern Steinboden im Zimmer zu haben. Wie eine sanfte Brise brachte sie Anmut mit herein, und als er ihr zulächelte, war es mit einem Gefühl der Freude.
»Buon giorno, Signorina«, sagte er. »Sie sehen heute besonders hübsch aus. Wie der Frühling in Person.«
»Ach, dieser alte Fetzen«, meinte sie wegwerfend und schnipste mit den Fingern gegen das Kleid, das sie mehr als einen Wochenlohn gekostet haben mußte. Ihr Lächeln strafte ihre Worte Lügen, weshalb er es auf sich beruhen ließ.
Sie reichte ihm zwei Aktendeckel mit einem Brief obenauf. »Das hier müssen Sie noch unterschreiben, Dottore.«
»La Capra?« fragte er.
»Ja. Ihre Begründung, warum Sie und Sergente Vianello damals nachts in den Palazzo gegangen sind.«
»Ach, ja«, brummte er und überflog rasch das zweiseitige Schriftstück, seine Antwort auf die Beschwerde von La Capras Anwälten, daß er, Brunetti, vor zwei Monaten rechtswidrig in sein Haus eingedrungen sei. In dem an den pretore gerichteten Schreiben hieß es, Brunetti sei im Zuge seiner Ermittlungen immer mehr zu der Überzeugung gekommen, daß La Capra irgendwie mit dem Mord an Semenzato zu tun gehabt habe, belegt durch die Tatsache, daß man in Semenzatos Zimmer die Fingerabdrücke Salvatore La Capras gefunden habe. Aufgrund dessen und zusätzlich zur Eile getrieben durch Dottoressa Lynchs Verschwinden, sei er mit Sergente Vianello und Signora Petrelli zu La Capras Palazzo gegangen. Bei ihrer Ankunft hätten sie (wie in den Aussagen von Sergente Vianello und Signora Petrelli erwähnt) die Tür offen gefunden und seien hineingegangen, als sie die Schreie einer Frau zu hören glaubten.
Sein Bericht schilderte ausführlich den Ablauf der Ereignisse nach ihrer Ankunft dort (wiederum bestätigt durch die Aussagen von Sergente Vianello und Signora Petrelli); diese Erklärungen sollten dazu dienen, den pretore dahingehend zu beruhigen, daß sein Vordringen auf Signor La Capras Grundstück durchaus im Rahmen des gesetzlich Erlaubten gewesen sei, da es fraglos das Recht, ja die Pflicht sogar einer Privatperson sei, auf einen Hilferuf hin zu handeln, zumal wenn ein Zutritt leicht und auf legale Weise möglich sei. Es folgte ein respektvoller Schlußsatz.
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