Brunetti 05 - Acqua alta
eine kleine Welle, die sich über den Hof ausbreitete und gegen Brunettis Beine schwappte.
Von oben hörte er La Capras Stimme. »Was ist denn los da unten? Was geht da vor?« Brunetti blickte von den beiden Frauen, die reglos mit umeinandergeschlungenen Armen verharrten, nach oben. La Capra stand von Lichtschein umgeben, der von hinten durch die Tür fiel, ein unheilvoller Christus am Eingang zu einem teuflischen Grab.
»Was machen Sie da unten?« rief er, diesmal noch fordernder und eine Tonlage höher. Er trat in den Regen und starrte hinunter auf die beiden zusammengekauerten Frauen und den Mann, der nicht sein Sohn war. »Salvatore?« rief er in den Regen. »Salvatore, gib Antwort!« Der Regen trommelte.
La Capra drehte sich abrupt um und verschwand im Palazzo. Brunetti beugte sich vor und faßte Flavia an der Schulter. »Flavia, steh auf. Hier können wir nicht bleiben.« Sie gab kein Zeichen, daß sie ihn gehört hatte. Er sah zu Brett, aber die starrte nur mit leerem Blick zu ihm auf. Da schob er eine Hand unter Flavias Arm und zog sie hoch, bückte sich und tat dasselbe mit Brett. Er machte einen Schritt auf die offene Tür und die kleine calle zu, den einen Arm heruntergezogen von Bretts taumelndem Gewicht. Sie rutschte aus, und er ließ Flavia los, um beide Arme um Brett zu legen. Er zog sie wieder hoch und trug sie jetzt fast, während er seine Beine durch das kalte Wasser in Richtung Tür zwang, wobei er Flavia kaum noch wahrnahm, die neben ihm herging.
»Salvatore, figlio mio, dove sei?« tönte die Stimme von oben herunter, hoch, wehklagend und verstört, als wüßte sie schon um den Gram, der ihren Besitzer erwartete. Brunetti schaute hinauf und sah La Capra mit einer Schrotflinte in der einen Hand an der Treppe stehen und zu ihnen herunterstarren. Bedächtig kam er eine Stufe um die andere nach unten, ohne sich um den Regen zu kümmern, der aus allen Richtungen auf ihn einpeitschte.
Brunetti war klar, daß er mit Bretts wankendem Gewicht nie die Tür erreichen würde, bevor La Capra unten war. »Flavia«, sagte er schnell und beschwörend. »Lauf nach draußen. Ich bringe Brett nach.« Flavia sah von ihm zu La Capra, der noch immer die Treppe herunterkam wie ein unbarmherziger Rachegott, dann zu Brett. Und von ihr zu der offenen Tür, die nur wenige Meter entfernt war. Bevor sie sich aber in Bewegung setzen konnte, erschienen oben an der Treppe drei Männer, von denen sie zwei als diejenigen erkannte, die sie neulich aus Bretts Wohnung vertrieben hatte.
»Capo«, rief einer zu der Gestalt auf der Treppe herunter.
La Capra drehte sich langsam zu ihnen um. »Geht rein. Das ist meine Sache.« Als sie reglos stehenblieben, richtete er die Flinte auf sie, aber eher beiläufig, als wäre er sich gar nicht bewußt, was er da in der Hand hatte. »Geht rein. Haltet euch da raus.« Sie waren auf Gehorchen gedrillt und zogen sich ängstlich zurück, während La Capra sich wieder umdrehte und seinen Weg nach unten fortsetzte.
Er bewegte sich jetzt so schnell, daß er am Fuß der Treppe angelangt war, bevor sich jemand rühren konnte.
»Er ist da drin«, sagte Flavia leise zu Brunetti und deutete mit dem Kopf nach der halboffenen Tür auf der anderen Seite des Hofs.
La Capra ging durchs Wasser, als wäre es gar nicht da, aber die drei Leute im Regen hatte er offenbar nicht vergessen, denn er hielt im Gehen die Flinte auf sie gerichtet. An der Tür zu dem Verlies blieb er stehen und rief in die Leere dahinter: »Salva? Salva, gib Antwort.«
Seine Knie verschwanden im Wasser, als er die erste Stufe hinunterging. Kurz hinter der Tür drehte er sich um und richtete die Flinte auf Brunetti und die beiden Frauen. Aber dann schien er sie einfach zu vergessen und wandte sich wieder in die dunkle Höhle, in die er beim nächsten und übernächsten Schritt ganz versank.
»Schnell, Flavia«, sagte Brunetti. Er warf sich, die schwere, kraftlose Brett an seine Hüfte gedrückt, herum und stieß sie zu Flavia, die überrascht die Arme ausstreckte, um die Taumelnde aufzufangen, aber sie hatte nicht die Kraft, sie zu halten, und beide sanken bis zu den Knien ins Wasser. Brunetti ließ sie, wo sie waren, und rannte platschend über den Hof. Hinter der Tür hörte er La Capra wieder und wieder den Namen seines Sohnes rufen. Brunetti packte mit beiden Händen die Tür und drückte mühsam ihr schweres Gewicht durchs Wasser, stieß sie mit einem kräftigen Fußtritt zu und hantierte hektisch an dem Riegel, bis er ihn
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