Brunetti 06 - Sanft entschlafen
er auf Miotti zurück. »Sie haben aber immer gesagt, daß er ein guter Polizist ist, Commissario.«
»Nicht nur Freigeister können gute Polizisten sein, Vianello.«
»Nein, sicher nicht«, pflichtete Vianello ihm bei.
Brunetti erklärte dem Sergente kurz den Grund ihrer Besuche und merkte dabei, wie schwer es ihm fiel, die Skepsis aus seiner Stimme herauszuhalten. Kurz darauf verließen sie die Questura und sahen Bonsuan, den Bootsführer, schon wartend auf einer Polizeibarkasse stehen. Alles blitzte: die Messingbeschläge am Boot, Bonsuans Kragenspiegel, die frischen grünen Weinblätter an einer Mauer gegenüber, eine auf dem großen, glänzenden Wasserspiegel treibende Weinflasche. Es lag allein an diesem Licht, daß Vianello plötzlich die Arme ausbreitete und lächelte.
Die Bewegung machte Bonsuan auf ihn aufmerksam, der den Sergente mit großen Augen ansah. Verlegen versuchte Vianello, aus dem Armeausbreiten das Gliederstrecken eines steifgesessenen Schreibtischmenschen zu machen, aber im selben Moment schwirrte ein verliebtes Mauerseglerpärchen tief übers Wasser, und Vianello ließ allen Schein fahren. »Frühling!« rief er dem Bootsführer glückselig zu und sprang neben ihm aufs Deck. Übermütig vor Freude klatschte er Bonsuan auf die Schulter.
»Verdanken wir das alles Ihrem Fitneßtraining?« erkundigte sich Brunetti, als er ebenfalls an Bord kam.
Bonsuan, der von Vianellos neuester Leidenschaft offenbar noch nichts wußte, bedachte den Sergente mit einem angewiderten Blick, drehte sich um, ließ den Motor an und lenkte die Barkasse auf den schmalen Kanal.
Unverdrossen blieb Vianello auf dem Deck, während Brunetti in die Kabine hinunterging und von einem Regal an der einen Kabinenwand einen Straßenplan nahm, um zu sehen, wie man am besten zu den drei Adressen auf seiner Liste kam. Von drinnen beobachtete er die beiden Männer: den Sergente, der seiner guten Laune mit der Ungeniertheit eines Heranwachsenden freien Lauf ließ; den mürrischen Bootsführer, der stur nach vorn blickte, als sie ins bacino di San Marco hinausfuhren. Soeben legte Vianello die Hand auf Bonsuans Schulter und zeigte nach Osten, um ihn auf ein entgegenkommendes Boot aufmerksam zu machen, dessen Segel von der frischen Frühlingsbrise gebläht waren. Bonsuan nickte einmal kurz, schaute aber sofort wieder in Fahrtrichtung. Vianello warf den Kopf in den Nacken und lachte, daß der tiefe Ton bis in die Kabine herunterdrang.
Brunetti hielt stand, bis sie mitten auf dem bacino waren, dann ließ er sich doch von Vianellos Fröhlichkeit anstecken und ging an Deck. Gerade als er hinaustrat, erwischte die Heckwelle einer vorbeifahrenden Lidofähre das Boot breitseits, und Brunetti verlor das Gleichgewicht und taumelte gegen die niedrige Reling. Vianellos Hand kam vorgeschossen, packte Brunetti am Ärmel, zog ihn zurück und hielt ihn fest, bis das Boot wieder ruhig lag. Dann ließ der Sergente ihn los und meinte: »In dieses Wasser lieber nicht.«
»Haben Sie Angst, ich könnte ertrinken?« fragte Brunetti.
Bonsuan mischte sich ein: »Eher daß Sie sich die Cholera holen.«
»Die Cholera?« fragte Brunetti lachend, denn das fand er doch reichlich übertrieben - das erste Mal übrigens, daß er Bonsuan einen Witz machen hörte.
Bonsuan warf den Kopf herum und sah Brunetti vollkommen ernst an. »Ja, die Cholera«, wiederholte er.
Als Bonsuan sich wieder zu seinem Steuerruder umdrehte, tauschten Vianello und Brunetti einen Blick wie zwei schuldbewußte Schuljungen, und Brunetti hatte den Eindruck, daß Vianello sich nur mühsam das Lachen verkniff.
»Früher, als Junge«, sagte Bonsuan ohne Einleitung, »bin ich vor unserm Haus geschwommen. Direkt in den Canale di Cannaregio gesprungen. Da konnte man bis auf den Grund sehen. Fische, Krebse. Jetzt sieht man nur noch Schlamm und Scheiße.«
Vianello und Brunetti wechselten wieder einen Blick.
»Wer einen Fisch aus diesem Wasser ißt, muß verrückt sein«, sagte Bonsuan.
Gegen Ende des letzten Jahres waren zahlreiche Cholerafälle bekanntgeworden, aber im Süden, wo so etwas eben vorkam. Brunetti erinnerte sich, daß die Gesundheitsbehörden den Fischmarkt in Bari geschlossen und die Ortsbevölkerung vor Fischverzehr gewarnt hatten, was ihm so vorgekommen war, als wollte man Kühen das Grasfressen verbieten. Herbstregen und Überschwemmungen hatten das Thema wieder aus den Zeitungen des Landes verdrängt, aber erst nachdem Brunetti sich schon zu fragen begonnen hatte, ob so
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