Brunetti 06 - Sanft entschlafen
etwas wohl auch hier im Norden möglich wäre und wie ratsam es war, etwas zu essen, was aus dem zunehmend verschmutzten Wasser der Adria kam.
Als das Boot an einem Gondelsteg links vom Palazzo Dario anlegte, packte Vianello das Ende einer zusammengerollten Leine und sprang damit an Land. Er stemmte sich nach hinten, um die Leine straff und das Boot fest am Anleger zu halten, bis Brunetti ausgestiegen war.
»Soll ich auf Sie warten, Commissario?« fragte Bonsuan.
»Nein, nicht nötig. Ich weiß nicht, wie lange es dauert«, antwortete Brunetti. »Sie können zurückfahren.«
Bonsuan hob lässig eine Hand an seinen Mützenschirm, eine Geste, die Ehrenbezeigung und Abschied zugleich war. Dann legte er den Rückwärtsgang ein und steuerte das Boot wieder auf den Kanal hinaus, ohne noch einen Blick zu den beiden Männern am Anleger zurückzuwerfen.
»Wohin zuerst?« fragte Vianello.
»Dorsoduro 378. Das ist in der Nähe des Guggenheim, auf der linken Seite.«
Sie gingen durch die schmale calle und bogen an der ersten Kreuzung rechts ab. Brunetti verspürte noch immer seinen Wunsch nach einer Tasse Kaffee und wunderte sich, daß hier beiderseits der Gasse nicht eine einzige Bar zu sehen war.
Ein alter Mann mit Hund kam ihnen entgegen, und Vianello trat hinter Brunetti, um den beiden Platz zu machen, dabei sprachen sie aber weiter über Bonsuans Bemerkung. »Glauben Sie wirklich, daß es mit dem Wasser so schlimm ist, Commissario?« fragte Vianello.
»Ja.«
»Aber manchmal schwimmen noch Leute im Canale della Giudecca«, beharrte Vianello.
»Wann?«
»Beim Redentore-Fest.«
»Da sind sie betrunken«, meinte Brunetti verächtlich.
Vianello zuckte die Achseln und hielt ebenfalls an, als sein Vorgesetzter stehenblieb. »Ich glaube, hier ist es«, sagte Brunetti und zog die Liste aus seiner Jackentasche. »Da Pré«, sagte er laut, während er die eingravierten Namen in den zwei Reihen Messingschilder links von der Tür las.
»Wer ist das?« erkundigte sich Vianello.
»Ludovico, Erbe der Signorina da Pré. Kann alles mögliche sein: Vetter, Bruder, Neffe.«
»Wie alt war sie?«
»Zweiundsiebzig«, antwortete Brunetti, die säuberlichen Spalten auf Maria Testas Liste vor Augen.
»Woran ist sie gestorben?«
»Herzinfarkt.«
»Besteht der Verdacht, daß dieser Mann...«, begann Vianello, wobei er mit dem Kinn auf das Messingschild deutete, »... irgend etwas damit zu tun hatte?«
»Sie hat ihm diese Wohnung und über fünfhundert Millionen Lire hinterlassen.«
»Und das heißt, daß es möglich wäre?« fragte Vianello.
Brunetti hatte erst vor kurzem erfahren, daß an dem Haus, in dem er wohnte, ein neues Dach fällig war und sein Anteil sich auf neun Millionen Lire belaufen sollte. »Wenn die Wohnung schön genug wäre«, antwortete er, »würde ich vielleicht auch jemanden umbringen, um sie zu kriegen.«
Vianello, der von dem neuen Dach nichts wußte, warf seinem Chef einen merkwürdigen Blick zu.
Brunetti drückte auf die Klingel. Es tat sich nichts, weshalb er nach einer geraumen Weile noch einmal drückte, diesmal viel länger. Die beiden Männer sahen sich an, und Brunetti zog die Liste heraus, um die nächste Adresse nachzusehen. Als sie sich gerade abwandten und nach links in Richtung Accademiabrücke gehen wollten, tönte aus der Sprechanlage über den Namensschildern eine hohe, geisterhafte Stimme.
»Wer ist da?«
Aus der Stimme war nur der geschlechtslose Klageton des Alters herauszuhören, dem Brunetti nicht entnehmen konnte, wie ihr Besitzer anzureden war: Signora oder Signore. »Bin ich richtig bei da Pré?« fragte er. »Ja. Was wollen Sie?«
»Mein Name ist Brunetti. Es haben sich ein paar Fragen im Zusammenhang mit dem Nachlaß von Signorina da Pré ergeben, und wir müssen mit Ihnen sprechen.«
»Wer sind Sie? Woher kommen Sie?«
»Polizei.«
Ohne weitere Fragen klickte die Tür auf, und sie standen in einem großen Innenhof mit einem weinumrankten Brunnen in der Mitte. Die einzige Treppe nach oben war durch eine Tür linker Hand zugänglich. Auf dem zweiten Treppenabsatz kamen sie an eine offene Tür, und in dieser stand der kleinste Mann, den Brunetti je gesehen hatte.
Weder Vianello noch Brunetti waren besonders groß, aber beide überragten turmhoch diesen Mann, der noch immer kleiner zu werden schien, je näher sie kamen.
»Signor da Pré?« fragte Brunetti.
»Ja«, antwortete der Mann und kam ihnen einen Schritt entgegen, eine Hand ausgestreckt, die nicht größer war als
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