Brunetti 06 - Sanft entschlafen
die eines Kindes. Da er die Hand fast bis in die Höhe seiner Schulter hob, brauchte Brunetti sich nicht zu bücken, um sie zu ergreifen. Da Prés Händedruck war fest und der Blick, mit dem er Brunetti ansah, klar und offen. Sein Gesicht war so schmal, daß es beinah an eine Messerschneide erinnerte. Entweder das Alter oder ständige Schmerzen hatten rechts und links von seinem Mund tiefe Furchen gegraben und unter seinen Augen dunkle Ringe eingeschnitten. Dadurch, daß er so klein war, konnte man sein Alter nicht richtig schätzen; zwischen fünfzig und siebzig Jahren war alles möglich.
Signor da Pré streckte Vianello, der Uniform trug, nicht die Hand hin, sondern nickte nur knapp in seine Richtung. Dann trat er durch die Tür zurück, um sie weiter zu öffnen und die beiden Männer in seine Wohnung zu bitten.
Mit einem gemurmelten »Permesso« folgten die Polizisten ihm in die Diele und warteten, bis er die Tür wieder zugemacht hatte.
»Bitte mir nach«, sagte der Mann und ging über den Flur voraus.
Brunetti sah von hinten den deutlichen Buckel, der sich links unter seinem Jackett abzeichnete wie das Brustbein eines Huhns. Da Pré hinkte zwar nicht direkt, aber sein Körper hatte beim Gehen eine starke Schlagseite nach links, als wäre die Wand ein Magnet und er selbst ein Sack voll Eisenspäne, der davon angezogen wurde. Er führte sie in ein Wohnzimmer mit Fenstern nach zwei Seiten. Links blickte man auf Dächer, während man rechts die zerbrochenen Fenster eines Hauses auf der gegenüberliegenden Seite der engen calle sah.
Die gesamte Zimmereinrichtung hatte dieselben Dimensionen wie die zwei riesigen Schränke an der hinteren Wand: ein Sofa mit hoher Lehne, auf dem sechs Leute Platz hatten; vier gedrechselte Stühle, den Ornamenten an ihren Armlehnen nach spanischer Herkunft, und eine gewaltige florentinische Kredenz, die Platte übersät von lauter kleinen Gegenständen, für die Brunetti kaum einen Blick übrig hatte. Da Pré erklomm einen der Stühle und bedeutete Brunetti und Vianello, auf zwei anderen Platz zu nehmen.
Brunettis Füße reichten, als er saß, nur noch knapp bis auf den Boden, während er die von da Pré in der Mitte zwischen Sitzfläche und Fußboden baumeln sah. Aber der aufmerksame Ernst im Gesicht des Mannes verhinderte, daß die weit auseinanderklaffenden Proportionen im mindesten lächerlich wirkten.
»Sie sagten, mit dem Testament meiner Schwester sei etwas nicht in Ordnung?« begann er kühl.
»Nein, Signor da Pré«, versetzte Brunetti. »Ich möchte kein Mißverständnis aufkommen lassen oder Sie in die Irre führen. Unsere Neugier gilt nicht dem Testament Ihrer Schwester oder irgendwelchen Verfügungen, die darin stehen. Wir interessieren uns vielmehr für ihren Tod, genauer gesagt die Todesursache.«
»Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?« fragte da Pré, jetzt etwas freundlicher, aber nicht in einem Ton, der Brunetti gefallen hätte.
»Sind das Schnupftabakdosen, Signor da Pré?« mischte Vianello sich ein, wobei er aufstand und zu der Kredenz hinüberging.
»Wie?« fragte der kleine Mann schneidend.
»Sind das Schnupftabakdosen?« wiederholte Vianello. Dabei beugte er sich über die kleinen Gegenstände.
»Warum fragen Sie?« wollte Signor da Pré wissen, noch nicht freundlicher, aber eindeutig interessiert.
»Mein Onkel Luigi in Triest hat sie gesammelt. Als Junge habe ich ihn immer gern besucht, denn er hat sie mir gezeigt, und ich durfte sie anfassen.« Wie um Signor da Pré jede Angst zu nehmen, daß er dies auch hier tun würde, legte Vianello seine Hände auf den Rücken und bückte sich nur etwas tiefer zu den Dosen hinunter. Dann nahm er eine Hand wieder nach vorn und zeigte auf eine, aber so, daß sein Finger mindestens eine Handbreit davon entfernt blieb. »Ist die holländisch?«
»Welche?« fragte da Pré, indem er von seinem Stuhl rutschte, hinging und sich neben den Sergente stellte.
Da Pré reichte mit dem Kopf kaum bis zur Oberkante der Kredenz, so daß er sich auf die Zehenspitzen stellen mußte, um die Dose zu sehen, auf die Vianello zeigte. »Ja, eine Delfter Arbeit. Achtzehntes Jahrhundert.«
»Und die?« erkundigte sich Vianello, auch jetzt nur zeigend, ohne das Stück zu berühren. »Bayrisch?«
»Sehr gut«, lobte da Pré. Er nahm die winzige Dose und reichte sie dem Sergente, der sie vorsichtig in beide Hände nahm.
Vianello drehte die Dose um und betrachtete die Unterseite. »Ja, da ist das Zeichen«, sagte er und kippte
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