Brunetti 06 - Sanft entschlafen
gehalten hatte, antwortete nichts darauf. Sie fuhr fort: »Suor Immacolata ist nicht, wie Sie meinen, ein ehemaliges Mitglied unseres Ordens. Ganz im Gegenteil. Sie ist nach wie vor an ihre Gelübde gebunden.« Und als vermutete sie, daß Brunetti diese nicht kannte, zählte sie an den Fingern ihrer rechten Hand auf: »Armut. Keuschheit. Gehorsam.« Die ersten beiden sprach sie ruhig, das dritte heftig erregt aus.
»Wenn sie doch aber ausgetreten ist, nach welchem Gesetz ist sie dann trotzdem noch Mitglied Ihres Ordens?«
»Nach dem Gesetz Gottes«, antwortete sie scharf, als verstünde sie von solchen Dingen schließlich mehr als er.
»Hat dieses spezielle Gesetz irgendeine juristische Relevanz?«
»Wenn nicht, dann stimmt etwas nicht mit einer Gesellschaft, die so etwas zuläßt.«
»Ich will Ihnen gern zugestehen, daß mit unserer Gesellschaft manches nicht in Ordnung ist, Mutter Oberin, aber ich werde Ihnen nicht zugestehen, daß dazu auch das Gesetz zählt, nach dem eine junge Frau von siebenundzwanzig Jahren eine Entscheidung, die sie als Jugendliche getroffen hat, wieder rückgängig machen darf.«
»Woher kennen Sie denn überhaupt ihr Alter?«
Ohne darauf einzugehen, fragte Brunetti: »Haben Sie einen Grund für Ihre Behauptung, Maria sei immer noch Mitglied Ihres Ordens?«
»Ich ›behaupte‹ nichts«, erwiderte sie mit beißendem Sarkasmus, »ich sage nur Gottes Wahrheit. Er ist es, der ihre Sünde vergeben wird; ich werde sie nur wieder in unserem Orden willkommen heißen.«
»Wenn Maria nicht getan hat, was ihr vorgeworfen wird, warum hat sie dann den Orden verlassen?«
»Ich kenne diese Maria nicht, von der Sie sprechen. Ich kenne nur Suor Immacolata.«
»Wie Sie wollen«, räumte Brunetti ein. »Warum hat sie den Orden verlassen?«
»Sie war schon immer sehr eigenwillig und aufsässig. Es ist ihr immer schwergefallen, sich dem Willen Gottes und der größeren Weisheit ihrer Vorgesetzten zu unterwerfen.«
»Was ein und dasselbe sein soll, nehme ich an?« fragte Brunetti.
»Machen Sie nur Scherze, wenn es Ihnen beliebt, Sie haben es selbst zu verantworten.«
»Ich bin nicht zum Scherzen hier, Mutter Oberin. Ich bin hier, um zu klären, warum sie den Ort verlassen hat, an dem sie arbeitete.«
Die Nonne dachte über diese Forderung lange nach. Brunetti sah sie mit der einen Hand an das Kruzifix auf ihrem Busen fassen, eine unbewußte, unwillkürliche Gebärde. »Es wurde darüber geredet...«, begann sie, ließ den Satz aber unvollendet. Sie senkte den Blick, sah, wie ihre Hand das Kruzifix befingerte, und nahm sie herunter. Dann sah sie wieder Brunetti an. »Sie hat sich geweigert, einem Befehl zu gehorchen, den sie von ihrer Vorgesetzten bekommen hat, und als ich ihr für diese Sünde des Ungehorsams eine Buße auferlegen wollte, ist sie gegangen.« Sichtlich widerstrebend fügte sie hinzu: »Ich muß zugeben, daß ihr Verhalten mich überrascht hat. In der Vergangenheit - war sie immer...« Sie hielt inne, und Brunetti beobachtete, wie in ihr die Wahrheit und die Verantwortung ihres Amtes miteinander im Widerstreit lagen. »Sie hat immer willig ihre Pflicht getan. Aber sie ist leicht erregbar. Bei Leuten ihrer Herkunft ist das ja oft so.«
Nicht einmal christliche Gesinnung vermochte ihr Mißtrauen gegenüber Sizilianern zu besiegen.
Brunetti ließ es ihr durchgehen. »Haben Sie mit ihrem Beichtvater gesprochen?«
»Ja. Als sie ging.«
»Und hat er Ihnen etwas gesagt, was sie ihm möglicherweise anvertraut hat?«
Sie schaffte es, ob dieser Frage richtig schockiert dreinzublicken. »Was sie ihm in der Beichte gesagt hat, durfte er mir selbstverständlich nicht weitersagen. Das Beichtgeheimnis ist heilig.«
»Heilig ist nur das Leben«, versetzte Brunetti, um diese Worte sogleich zu bereuen.
Er sah sie eine Erwiderung hinunterschlucken und stand auf. »Danke«, sagte er. Falls es sie überraschte, wie abrupt er dieses Gespräch beendete, zeigte sie es jedenfalls nicht. Brunetti ging zur Tür und öffnete sie. Als er zurückblickte, um auf Wiedersehen zu sagen, saß die Mutter Oberin noch immer stocksteif auf ihrem Stuhl, und ihre Hand befingerte das Kruzifix.
12
B runetti schlug den Heimweg ein, kaufte unterwegs noch Mineralwasser und war gegen halb acht zu Hause. Als er die Wohnungstür aufschloß, wußte er sofort, daß alle da waren:
Chiara und Raffi lachten im Wohnzimmer über irgend etwas im Fernsehen, und Paola sang in ihrem Arbeitszimmer Rossini mit.
Er trug die Flaschen
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