Brunetti 06 - Sanft entschlafen
mir redest, weiß ich schon, daß du mir überhaupt nicht zuhören wirst.«
»Und was für ein Ton ist das, wenn ich fragen darf?«
»Genau der«, blaffte Chiara.
Paolas Blick suchte bei den Männern der Familie Hilfe gegen diesen ungerechtfertigten Angriff ihrer Jüngsten, doch diese waren nicht zu erweichen. Chiara schälte weiter an ihrem Apfel herum, wollte es unbedingt an einem Stück schaffen. Der Schalestreifen hätte inzwischen gewiß schon bis ans Tischende gereicht.
»Entschuldige, Chiara«, sagte Paola.
Chiara warf ihr einen kurzen Blick zu, löste das letzte Stück Schale, schnitt ein Stück von ihrem Apfel ab und legte es ihrer Mutter auf den Teller.
Brunetti fand es an der Zeit, die Verhandlung fortzuführen. »Warum willst du dich vom Religionsunterricht abmelden, Chiara?«
»Raffi hat recht. Es ist Zeitverschwendung. Ich konnte den Katechismus schon nach einer Woche auswendig, und jetzt müssen wir ihn nur immer wieder aufsagen, wenn er uns aufruft. Langweilig ist das, und in der Zeit könnte ich lesen oder meine Hausaufgaben machen. Aber das schlimmste ist, daß er es nicht mag, wenn wir Fragen stellen.«
»Was denn für Fragen?« erkundigte sich Brunetti, nachdem er das letzte Stück von Chiaras Apfel angenommen und ihr damit Gelegenheit gegeben hatte, einen neuen zu schälen.
»Zum Beispiel«, sagte sie, ganz auf ihr Messer konzentriert, »hat er heute gesagt, daß Gott unser Vater ist, und dabei immer so von ihm gesprochen wie von einem Mann. Da hab ich mich gemeldet und gefragt, ob es stimmt, daß Gott ein Geist ist. Ja, das stimmt, hat er gesagt. Da hab ich gefragt, ob es denn auch stimmt, daß ein Geist sich von einem Menschen dadurch unterscheidet, daß er keinen Körper hat und überhaupt nicht aus Materie ist. Und als er das auch bejahte, hab ich gefragt, wieso Gott denn dann ein Vater, also ein Mann sein soll, wenn er doch ein Geist ohne Körper ist.«
Brunetti warf einen Blick über Chiaras gesenkten Kopf hinweg, aber zu spät; Paolas Gesicht zeigte keine Spur eines triumphierenden Lächelns. »Und was hat Don Luciano darauf gesagt?«
»Oje, wütend ist er geworden und hat mich angebrüllt, daß ich mich aufspielen wollte.« Sie hob den Kopf und sah Brunetti an, vergaß für einen Moment ihren Apfel. »Aber das stimmte gar nicht, papà. Ich wollte mich überhaupt nicht aufspielen. Ich wollte es nur wissen. Das finde ich nämlich unlogisch. Ich meine, Gott kann doch nicht beides zugleich sein, oder?«
»Ich weiß nicht, Engelchen. Es ist lange her, daß ich so was gelernt habe.
Ich nehme an, Gott kann jederzeit sein, was er will. Vielleicht ist Gott so groß, daß unsere kleinen Gesetze über materielle Wirklichkeit und unser winziges Universum gar keine Bedeutung für ihn haben. Hast du darüber mal nachgedacht?«
»Nein, das nicht«, sagte sie und schob ihren Teller fort. Sie überlegte ein Weilchen, dann meinte sie: »Wäre wohl möglich.« Wieder ein nachdenkliches Schweigen: »Kann ich jetzt meine Hausaufgaben machen gehen?«
»Natürlich«, sagte Brunetti, wobei er sich zu ihr hinüberbeugte und ihr das Haar verwuschelte. »Und wenn du Schwierigkeiten mit deinen Mathematikaufgaben hast, den richtig kniffligen, dann komm damit zu mir.«
»Und was machst du dann, papà? Mir erklären, daß du mir leider nicht weiterhelfen kannst, weil Mathe zu deiner Zeit so ganz anders war?« fragte Chiara lachend.
»Mache ich es denn bei deinen Mathematikaufgaben nicht immer so, Schätzchen.«
»Eben. Bleibt dir ja wohl auch nichts anderes übrig, wie?«
»Ich fürchte, ja«, sagte Brunetti und schob seinen Stuhl zurück.
Als Chiara und Raffi gegangen waren, wandte Brunetti sich an Paola: »Also«, sagte er.
»Also was?«
»Es wird Zeit, daß sie sich von diesem Unterricht abmeldet.« Paola hielt beim Tischabräumen inne und sah ihn schweigend an. Sie wartete.
»Hat sie zu dir noch etwas über die Sachen gesagt, die er von sich gibt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Es sind wohl mehr die anderen Mädchen, die über ihn reden, aber was ich von Chiara höre, klingt so, als fänden sie es nicht nur komisch, sondern auch schockierend.«
»Herrgott noch mal«, platzte Brunetti heraus. »Sind die denn alle so?«
»Alle wie?« fragte Paola.
»Alle so wie dieser widerliche Mensch.« Es verging eine ganze Weile, bevor sie antwortete. »Nein, ich glaube nicht.« Und fast widerstrebend fügte sie hinzu:
»Ich glaube nicht, daß es viele sind, aber es ist ja meist so, daß nur die
Weitere Kostenlose Bücher