Brunetti 06 - Sanft entschlafen
Beweisen haben«, lenkte er ein, und als Paola eisern abgewandt stehen blieb, korrigierte er sich weiter. »Also gut, gar keine Beweise. Aber wieso geht dann das Gerücht um, sie hätte Geld gestohlen und einen von den alten Leuten verletzt? Und warum hätte man sie angefahren und an der Straße liegen gelassen?«
Paola öffnete das Päckchen Maismehl, das neben dem Topf stand, und nahm eine Handvoll heraus. Während sie antwortete, ließ sie es mit der einen Hand ins kochende Wasser rieseln und rührte mit dem großen Löffel in der anderen. »Könnte Unfall mit Fahrerflucht gewesen sein«, sagte sie. »Und Frauen unter sich haben außer Klatschen nicht viel zu tun«, fügte sie hinzu.
Brunetti saß mit offenem Mund da. »Und das von einer Frau«, meinte er schließlich, »die sich als Feministin betrachtet? Der Himmel sei davor, daß ich mir einmal anhören muß, was Nichtfeministinnen über alleinlebende Frauen sagen.«
»Es ist mein Ernst, Guido. Frauen oder Männer, das ist doch alles eins.« Unbeeindruckt von seinem stummen Protest rührte sie weiter Maismehl ins kochende Wasser. »Laß Menschen lange genug unter sich, und sie können nur noch übereinander klatschen. Noch schlimmer ist es, wenn sie keine Zerstreuung haben.«
»Zum Beispiel Sex?« fragte er, um sie ein bißchen zu schockieren oder ihr wenigstens ein Lachen zu entlocken.
»Vor allem ohne Sex.«
Sie war fertig mit dem Maismehl, und Brunetti ließ sich das, was sie beide eben gesagt hatten, durch den Kopf gehen.
»Hier, rühr du mal weiter, während ich den Tisch decke«, sagte sie, indem sie den Platz vor dem Herd freigab. Sie wollte ihm den Holzlöffel reichen.
»Ich decke den Tisch«, sagte er, stand auf und öffnete den Schrank. Bedächtig verteilte er Teller, Gläser und Besteck. »Gibt es Salat?« fragte er. Als Paola nickte, nahm er vier Salatschälchen aus dem Schrank und stellte sie auf den Küchentresen. »Nachtisch?« »Obst.«
Er nahm vier weitere Teller heraus.
Dann setzte er sich wieder hin und griff nach seinem Glas. Er trank einen Schluck und sagte: »Also gut. Vielleicht war es ein Unfall, und vielleicht ist es reiner Zufall, daß sie in der casa di cura schlecht von ihr reden.« Er stellte das Glas ab und goß Wein nach. »Glaubst du das?«
Sie rührte noch einmal die Polenta und legte den Löffel quer über den offenen Topf. »Nein, ich glaube, daß jemand sie umzubringen versucht hat. Und ich glaube, daß jemand die Geschichte von dem Gelddiebstahl gezielt in die Welt gesetzt hat. Alles, was du mir je über sie erzählt hast, sagt mir, daß sie niemals lügen oder stehlen würde. Und ich bezweifle, daß jemand, der sie gut kennt, es ihr zutrauen würde. Es sei denn, die Behauptung stammt von einer Autoritätsperson.« Sie nahm sein Glas, trank einen Schluck und stellte es wieder hin.
»Komisch, Guido, aber genau das gleiche habe ich mir vorhin angehört.«
»Das gleiche?«
»Es gibt im Barbiere diese wunderschöne Arie - und rede mir jetzt nicht dazwischen, daß es im Barbiere viele wunderschöne Arien gibt. Es ist die, in der dieser Dingsda, Basilio, der Musiklehrer, von una calunnia singt, wie eine einmal in die Welt gesetzte Verleumdung wächst, bis der Verleumdete...« - und hier überraschte sie Brunetti, indem sie ihm die letzten Takte der Baßarie vorsang, nur eben in ihrem hellen Sopran: »Avvilito, calpestato, sotto Il pubblico flagello per gran sorte va a crepar.«
Sie war noch nicht fertig, als beide Kinder in der Küchentür erschienen und erstaunt ihre Mutter anblickten. Nachdem Paola geendet hatte, rief Chiara: »Aber mamma, ich wußte ja gar nicht, daß du singen kannst.«
Paola sah ihren Mann an, nicht ihre Tochter, als sie erwiderte: »Es gibt eben an Müttern immer wieder Neues zu entdecken.«
Als sie mit dem Essen fast fertig waren, kamen sie so sicher, wie die Nacht dem Tag folgt, auf die Schule zu sprechen, und bei der Gelegenheit erkundigte Paola sich nach Chiaras Religionsunterricht.
»Ich möchte da nicht mehr hin«, sagte Chiara, während sie sich einen Apfel aus der Obstschale auf dem Tisch nahm.
»Ich verstehe gar nicht, warum ihr sie nicht sich abmelden laßt«, schaltete sich Raffi ein. »Es ist doch sowieso nur Zeitverschwendung.«
Paola würdigte seinen Beitrag keiner Antwort und fragte statt dessen Chiara: »Wie kommst du darauf, Chiara?«
Sie zuckte die Achseln.
»Soviel ich weiß, hast du einen Mund zum Sprechen, Chiara.«
»Ach, hör auf, mamma. Wenn du in dem Ton mit
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