Brunetti 06 - Sanft entschlafen
wandte sie sich nach links, trat wieder in das Gebäude und ging einen breiten Korridor hinunter. An dessen Ende kamen sie in einen großen, offenen Raum, in dem mehrere alte Leute saßen. Einige waren in Gespräche vertieft, die zusammenhanglos wirkten, weil alles schon so oft gesagt worden war. Einige saßen nur in ihren Sesseln und schienen in Erinnerungen verloren, vielleicht auch in Bedauern.
»Das ist der Aufenthaltsraum«, erklärte Schwester Clara unnötigerweise. Sie ließ Brunetti kurz stehen und ging eine Zeitschrift aufheben, die einer alten Frau aus der Hand gefallen war. Sie gab ihr das Heft mit ein paar aufmunternden Worten in venezianischem Dialekt.
Als sie zu Brunetti zurückkam, sprach er sie in Veneziano an: »Das Heim, in dem meine Mutter jetzt ist, wird auch von Ihrem Orden geführt.«
»Welches?« fragte sie, weniger aus echter Neugier als offenbar aus der durch ihren Beruf antrainierten Gewohnheit, Interesse zu zeigen. »Die Casa Marina in Dolo.«
»Ah, ja. Dort arbeitet unser Orden schon seit Jahren. Warum wollen Sie Ihre Mutter denn hierher verlegen?«
»Es wäre für meinen Bruder und mich näher. Und unsere Frauen würden sie dann auch lieber besuchen.«
Sie nickte, wußte offenbar nur zu gut, wie ungern viele Leute ihre betagten Angehörigen besuchten, besonders wenn es nicht die eigenen Eltern waren. Sie führte Brunetti über den Flur zurück in den Innenhof.
»Dort war jahrelang eine Schwester, die dann aber, soviel ich weiß, hierher versetzt wurde«, sagte Brunetti betont beiläufig.
»So?« fragte sie mit demselben höflichen, nichtssagenden Interesse. »Welche denn?«
»Suor Immacolata«, sagte er, wobei er aus seiner größeren Höhe ihre Reaktion beobachtete.
Es sah aus, als wäre sie gestolpert oder hätte den Fuß zu hart auf den unebenen Steinboden gesetzt. »Kennen Sie sie?« fragte Brunetti.
Er sah sie gegen die Lüge ankämpfen. Schließlich sagte sie: »Ja«, aber nichts weiter.
Als hätte er von allem nichts gemerkt, fuhr Brunetti fort: »Sie war sehr gut zu meiner Mutter. Genauer gesagt, meine Mutter hat sie sehr ins Herz geschlossen. Mein Bruder und ich sind richtig froh, daß sie hier ist, denn offenbar hat sie einen beruhigenden Einfluß auf unsere Mutter.« Er blickte auf Schwester Clara hinunter und fügte hinzu: »Sie wissen ja sicher, wie das bei manchen alten Leuten ist. Manchmal sind sie...« Er ließ den Satz unvollendet.
Schwester Clara öffnete eine Tür und sagte: »Hier ist die Küche.«
Brunetti sah sich mit geheucheltem Interesse um.
Nachdem die Küche ausreichend begutachtet war, führte sie ihn in die entgegengesetzte Richtung und eine Treppe hinauf. Im Gehen erklärte sie: »Hier oben wohnen die Frauen. Signora Viotti ist heute mit ihrem Sohn fort, Sie können sich also ihr Zimmer ansehen.« Brunetti verkniff sich die Bemerkung, daß Signora Viotti da eigentlich mitzureden hätte, und folgte der Nonne durch den Flur, der hier cremeweiß gestrichen war, aber auch diese allgegenwärtigen Handläufe hatte.
Sie öffnete eine Tür, und Brunetti warf einen Blick in das Zimmer und sagte, was man eben so sagt, wenn man komfortable Sterilität vor sich sieht. Schon wollte Schwester Clara sich wieder zur Treppe wenden.
»Bevor ich zu Ihrer Mutter Oberin gehe, würde ich gern noch Suor Immacolata guten Tag sagen«, sagte Brunetti und beeilte sich hinzuzufügen: »Das heißt, wenn es möglich ist. Ich möchte sie ja nicht von ihren Pflichten abhalten.«
»Suor Immacolata ist nicht mehr hier«, antwortete Schwester Clara in angespanntem Ton.
»Oh, das höre ich aber ungern. Meine Mutter wird zutiefst enttäuscht sein. Und mein Bruder auch.« Brunetti versuchte seiner Stimme einen einsichtigen und doch resignierten Klang zu geben, als er fortfuhr: »Aber es gilt die Werke des Herrn zu tun, ganz gleich, wohin wir gestellt werden.« Und als die Nonne darauf nicht antwortete, fragte er: »Ist sie in ein anderes Pflegeheim versetzt worden, Schwester?«
»Sie ist nicht mehr unter uns«, sagte Schwester Clara.
Brunetti blieb wie angewurzelt stehen und tat bestürzt. »Ist sie tot? Gütiger Himmel, Schwester, das ist ja furchtbar.« Und als wäre ihm nachträglich das Gebot der Pietät eingefallen, flüsterte er: »Gott sei ihrer Seele gnädig.«
»Ja, Gott sei ihrer Seele gnädig«, sagte Schwester Clara, indem sie sich zu ihm umdrehte. »Sie hat den Orden verlassen. Sie ist nicht tot. Sie wurde von einem unserer Patienten erwischt, als sie aus seinem
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