Brunetti 06 - Sanft entschlafen
den einen Bösewicht, den man unmittelbar vor der Nase hat, zu übersehen. Wieviel einfacher, ein System zu verdammen als einen Menschen.
Diesmal öffnete auf Brunettis Klingeln ein Mann in den Fünfzigern, mit einem Gewand, das wohl eine Mönchskutte darstellen sollte, aber nur aussah wie ein schlecht gearbeitetes Hemd. Als Brunetti ihm sagte, er wolle Padre Pio sprechen, faltete der Pförtner nur die Hände und senkte den Kopf, sagte aber nichts. Dann führte er Brunetti über den Innenhof, wo von dem Gärtner nichts zu sehen war, während der Flieder noch stärker duftete. Drinnen mischten sich Weihrauch- und Wachsgeruch mit dem süßen Duft des Flieders. Einmal kam ihnen ein jüngerer Mann entgegen, und die beiden Laienbrüder nickten einander schweigend zu, was auf Brunetti nur wie frommes Theater wirkte.
Der Mann, den Brunetti bei sich schon nur noch den »stummen Diener« nannte, blieb vor der Tür zu Padre Pios Zimmer stehen und bedeutete Brunetti mit einem Nicken, daß er eintreten solle, was er, ohne anzuklopfen, tat. Drinnen fand er die Fenster geschlossen, dafür bemerkte er diesmal das Kruzifix an der hinteren Wand, ein religiöses Symbol, gegen das Brunetti eine besondere Abneigung hatte.
Ein paar Minuten später ging die Tür auf, und Padre Pio kam herein. Wie Brunetti noch wußte, trug er das Habit mit Würde und ganz so, als wäre es ihm sogar bequem. Wieder fiel Brunettis Blick als erstes auf die vollen Lippen, aber wie beim letzten Mal erkannte er, wie dominierend an diesem Mann die Augen waren, graue Augen, die Intelligenz ausstrahlten.
»Schön, Sie wiederzusehen, Commissario«, sagte der Padre. »Vielen Dank für Ihre Nachricht. Suor Immacolatas Genesung ist sicherlich eine Antwort auf unsere Gebete.«
Am liebsten hätte Brunetti sich dieses frömmlerische Getue verbeten, doch er widerstand der Versuchung und sagte nur: »Ich möchte noch ein paar Fragen von Ihnen beantwortet haben.«
»Gern. Solange es - wie ich Ihnen letztes Mal erklärt habe - keine Preisgabe von Dingen erfordert, die dem Siegel der Verschwiegenheit unterliegen.« Obwohl der Pater immer noch lächelte, merkte Brunetti, daß seine veränderte Stimmung dem Mann nicht entgangen war.
»Nein, ich glaube nicht, daß irgend etwas davon Ihre Schweigepflicht berührt.«
»Gut. Aber bevor Sie anfangen, machen wir es uns doch wenigstens bequem.« Er führte Brunetti zu denselben beiden Stühlen und ließ sich, nachdem er sein Habit mit geübter Eleganz zur Seite geschlagen hatte, auf dem einen nieder. Dann griff er mit der rechten Hand unter sein Skapulier und begann an seinem Rosenkranz zu fingern. »Was möchten Sie denn von mir wissen, Commissario?«
»Erzählen Sie mir etwas über Ihre Arbeit im Pflegeheim.«
Cavaletti lachte einmal kurz und meinte: »Ich weiß nicht, ob man es so nennen kann, Dottore. Ich diene den Patienten und einem Teil des Personals als Seelsorger. Menschen näher zu ihrem Schöpfer zu bringen ist eine Freude, keine Arbeit.« Er wandte den Blick, aber erst, nachdem er gesehen hatte, wie wenig er Brunetti mit diesen Phrasen beeindruckte.
»Sie nehmen ihnen die Beichte ab?«
»Ich weiß nicht, ob das jetzt eine Frage oder eine Feststellung war, Commissario«, sagte Cavaletti mit einem Lächeln, als wolle er seiner Bemerkung auch den leisesten Anflug von Sarkasmus nehmen.
»Es war eine Frage.«
»Dann will ich sie Ihnen beantworten.« Sein Lächeln war nachsichtig. »Ja, ich nehme den Patienten und einigen von den Mitarbeitern die Beichte ab. Es ist eine große Verantwortung, besonders die Beichten der alten Leute.«
»Und warum, Padre?«
»Weil sie dem Ende ihres Erdendaseins näher sind.«
»Verstehe«, sagte Brunetti, und als wäre es nur die logische Konsequenz aus der vorausgegangenen Antwort, fragte er: »Haben Sie ein Konto bei der Schweizerischen Bank in Lugano?«
Das friedliche Lächeln auf den Lippen des Mannes blieb unverändert, aber Brunetti sah, wie die Augen sich fast unmerklich und nur für einen winzigen Moment verengten. »Was für eine sonderbare Frage«, sagte Cavaletti mit sichtlich verwirrtem Stirnrunzeln. »Was hat das denn mit der Beichte dieser alten Leute zu tun?«
»Genau das versuche ich herauszufinden, Padre«, sagte Brunetti.
»Eine sonderbare Frage ist es trotzdem«, meinte Cavaletti.
»Unterhalten Sie ein Konto bei der Schweizerischen Bank in Lugano?«
Der Pater nahm die nächste Perle zwischen die Finger und sagte: »Ja. Ein Teil meiner Familie lebt im Tessin,
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