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Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Brunetti 06 - Sanft entschlafen

Titel: Brunetti 06 - Sanft entschlafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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abend bei den Hausaufgaben geholfen - ihr Mann ist diese Woche geschäftlich in Rom -, und wie sie sagt, hat Nicoletta zu weinen angefangen, als sie ihr Religionsbuch sah. Als ihre Mutter fragte, was los sei, wollte sie nichts sagen. Aber nach einer Weile hat ihr das Mädchen dann erzählt, daß Don Luciano in der Beichte irgendwelche Sachen zu ihr gesagt hätte, und dann hätte er sie noch angefaßt.«
    »Wo angefaßt?« fragte Brunetti, ebenso als Vater wie als Polizist.
    »Das wollte sie nicht sagen. Signora Stocco wollte nicht zuviel daraus machen, aber ich glaube, sie ist ziemlich fertig. Während sie mit mir sprach, hat sie geweint. Sie hat mich gebeten, mit dir darüber zu reden.«
    Brunetti war in Gedanken schon weit voraus. Er fragte sich, was erst passieren müsse, bevor er den Vater vom Polizisten trennen und etwas unternehmen könne. »Das Mädchen müßte uns alles sagen«, meinte er.
    »Ich weiß. Aber wie ich die Mutter verstanden habe, wird sie das wahrscheinlich nicht.«
    Brunetti nickte. »Solange sie nicht redet, kann ich nichts unternehmen.«
    »Ich weiß«, sagte Paola wieder. Sie schwieg eine Weile, dann fügte sie hinzu: »Aber ich kann.«
    »Was meinst du damit?« fragte Brunetti, überrascht von der Plötzlichkeit und Größe der Angst, die ihn befiel.
    »Keine Sorge, Guido. Ich rühre ihn nicht an. Das verspreche ich dir. Aber ich werde dafür sorgen, daß er seine Strafe bekommt.«
    »Du weißt nicht einmal, was er getan hat«, entgegnete Brunetti. »Wie kannst du da schon von Strafe reden?«
    Sie trat ein paar Schritte von ihm weg und sah ihn an, wollte etwas sagen, besann sich aber. Nach einer Pause, in der er sie zweimal zum Sprechen ansetzen und es sich wieder anders überlegen sah, kam sie zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. »Mach dir keine Sorgen, Guido. Ich werde nichts Ungesetzliches tun. Aber ich werde ihn bestrafen und, wenn nötig, vernichten.« Sie sah seinen Schock in Vertrauen umschlagen und sagte: »Entschuldige, ich vergesse immer, wie sehr du Melodramatik verabscheust.« Sie sah auf die Uhr und dann wieder zu ihm auf. »Wie gesagt, es ist spät, und ich muß früh unterrichten.«
    Damit ließ Paola ihn stehen und begab sich in Richtung Schlafzimmer und Bett.

18
    B runetti schlief normalerweise gut, aber in dieser Nacht hielten Träume ihn wach, Träume mit Tieren. Er sah Löwen und Schildkröten und ein ganz besonders wunderliches Tier mit langem Bart und kahlem Kopf. Die Glocken von San Polo zählten ihm die Stunden vor, leisteten ihm Gesellschaft in dieser langen, schwer zu ertragenden Nacht. Um fünf dämmerte ihm die Erkenntnis, daß Maria Testa wieder aufwachen und reden mußte, und kaum hatte er das eingesehen, fiel er in einen so friedlichen und traumlosen Schlaf, daß nicht einmal Paolas geräuschvolles Fortgehen ihn aufwecken konnte.
    Er erwachte dann kurz vor neun, blieb noch zwanzig Minuten im Bett liegen, um sich seinen Plan zurechtzulegen, wobei er erfolglos die Tatsache auszublenden versuchte, daß sie es war, die alle mit ihrer Wiederauferstehung verbundenen Risiken trug. Der Drang, dem Gedanken die Tat folgen zu lassen, wurde so mächtig, daß er ihn schließlich aus dem Bett und unter die Dusche trieb, danach aus der Wohnung und in die Questura. Von dort rief er den Chefarzt der Neurologie im Ospedale Civile an und erhielt den ersten Dämpfer, denn der Arzt erklärte ihm nachdrücklich, daß Maria Testa unter gar keinen Unständen verlegt werden könne. Ihr Zustand sei noch zu instabil und bedenklich für eine solche Strapaze. Aus der Erfahrung langjähriger Kämpfe mit dem ganzen Gesundheitssystem vermutete Brunetti den wahren Grund eher darin, daß es lediglich dem Krankenhauspersonal zu lästig wäre, aber er wußte auch, daß jede Diskussion darüber sinnlos war.
    Er ließ Vianello zu sich heraufkommen und setzte ihm seinen Plan auseinander. »Wir müssen also nur«, schloß er, »in der morgigen Ausgabe des Gazzettino die Meldung plazieren, daß sie aus dem Koma erwacht sei. Sie wissen, wie die auf so etwas fliegen - ›Vom Rande des Grabes zurück‹. Wenn dann die Leute, die in dem Auto gesessen haben, erst einmal glauben, daß sie wieder zu sich gekommen ist und reden kann, müssen sie es wohl oder übel noch mal versuchen.«
    Vianello betrachtete Brunettis Gesicht, als sähe er etwas ganz Neues darin, aber er sagte nichts.
    »Nun?« drängte Brunetti.
    »Haben wir noch die Zeit, das in die morgige Ausgabe zu kriegen?« fragte der

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