Brunetti 06 - Sanft entschlafen
aber nicht, wie sonst üblich. »Was gibt's für Kummer, Signorina?«
Statt zu antworten, zeigte sie auf einen Aktendeckel, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag. »Mit Padre Pio Cavaletti, Dottore.«
»Soo schlimm?« fragte Brunetti, ohne selbst zu wissen, was er mit »soo« meinte.
»Lesen Sie mal, dann wissen Sie's.«
Brunetti nahm das Aktenmäppchen und klappte den Deckel neugierig auf. Es waren Fotokopien von drei Schriftstücken darin. Das erste war ein kurzer Brief von der Zweigstelle Lugano der Schweizerischen Bank an »Signor Pio Cavaletti«; das zweite war ein Brief an den Patriarchen auf dem Briefpapier und mit der Unterschrift eines der bekanntesten Anwälte der Stadt; das dritte trug das ihm nun schon vertraute Wappen des Patriarchen von Venedig.
Er sah wieder kurz zu Signorina Elettra, die stumm dasaß und mit sittsam auf dem Schreibtisch gefalteten Händen wartete, bis er fertiggelesen hatte. Er blickte wieder auf die Papiere und las sie langsam durch.
Signor Cavaletti. Wir bestätigen Ihre Einzahlung vom 29. Januar in Höhe von 36 - in Worten sechsunddreißig - Millionen Lire (ital.) auf Ihr Konto bei unserer Bank. Ihr derzeitiger Kontostand beträgt 465 347 Schweizer Franken.
Der Computerbrief trug keine Unterschrift.
In Anbetracht der Rückerstattung der von der Mutter meiner Mandantin an Pio Cavaletti gezahlten Gelder hat meine Mandantin sich entschieden, ihre Betrugsanzeige zurückzuziehen.
Aufgrund der von Ihrer Kanzlei an uns übermittelten Informationen wurde beschlossen, Padre Pio Cavaletti von seiner Mitgliedschaft im Orden Opera Pia zu entbinden. Angesichts der in dem Begleitschreiben enthaltenen Informationen wurde ferner beschlossen, gegen ihn weder kirchen- noch zivilrechtliche Maßnahmen einzuleiten; sein Ausschluß aus dem Orden ist jedoch unwiderruflich.
Nachdem er alles gelesen hatte, sah Brunetti auf. »Als was verstehen Sie das, Signorina?«
»Genau als das, was es ist, Dottore.« »Und das wäre?« »Nötigung.« Sie hielt kurz inne, bevor sie hinzufügte:
»Ich bin zugegebenermaßen überrascht, daß sie ihn rausgeschmissen haben.« Brunetti nickte und fragte: »Woher sind die Sachen?« »Nummer zwei und drei aus den Akten im Amt des Patriarchen.« »Und Nummer eins?«
»Aus verläßlicher Quelle«, lautete ihre einzige Erklärung, und Brunetti verstand, daß sie mehr dazu auch nicht zu sagen bereit war. »Ich nehme Ihr Wort dafür, Signorina.« »Danke«, sagte sie artig.
»Ich habe über Opera Pia nachgelesen«, erzählte er. »Weiß vielleicht der Freund Ihrer Freundin, ich meine der im Amt des Patriarchen, ob diese Leute sehr...« - Brunetti hatte eigentlich »mächtig« sagen wollen, aber etwas beinah Abergläubisches hielt ihn davon ab - »... ob diese Leute in der Stadt sehr präsent sind?«
»Er sagt, es ist sehr schwierig, etwas Bestimmtes über sie oder ihr Tun zu sagen, besonders in Italien. Aber er ist überzeugt, daß ihre Macht etwas sehr Reales ist.«
»Genau das haben die Leute früher über Hexen gesagt, Signorina.«
Sie runzelte halb skeptisch, halb zustimmend die Stirn und nickte.
Brunetti fuhr fort: »Und es könnte dasselbe sein - daß die Leute nämlich sehr bereitwillig das Schlimmste glauben, sobald von etwas Geheimem die Rede ist.«
Sichtlich widerstrebend meinte sie: »Schon möglich.«
»Ich wußte gar nicht, daß Sie so entschiedene Ansichten über Religion haben«, sagte er.
»Das hat doch mit Religion überhaupt nichts zu tun«, fuhr sie auf.
»Nein?« Brunetti staunte nicht schlecht.
»Nur mit Macht.«
Brunetti machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wird wohl stimmen«, meinte er dann.
Signorina Elettras Stimme klang etwas entspannter, als sie jetzt sagte: »Vice-Questore Patta läßt Ihnen sagen, daß der Besuch des Schweizer Polizeichefs verschoben wurde.«
Brunetti hatte kaum zugehört. »Genauso redet meine Frau.« Als er sah, daß sie nicht mitkam, fügte er erklärend hinzu: »Über das mit der Macht.« Und als sie verstanden hatte, fragte er: »Entschuldigung, was sagten Sie über den Vice-Questore?«
»Der Besuch des Schweizer Kollegen wurde verschoben.«
»Ach, den hatte ich schon ganz vergessen. Vielen Dank, Signorina.« Damit legte er ihr den Umschlag wieder auf den Schreibtisch und ging in sein Zimmer, um seinen Mantel zu holen. Auf der Treppe nach oben dachte er darüber nach, wie leicht es doch war, dem italienischen Nationalsport zu frönen und überall Komplotte und große Verschwörungen zu vermuten und dabei
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