Brunetti 06 - Sanft entschlafen
sich überlegen konnte, wie seine Fragen in den Wortschatz ihres Irrsinns zu kleiden wären, richtete sie einen verwunderten, forschenden Blick auf ihn. »Wie?« fragte sie. »Welche anderen?«
Brunetti erkannte sofort, daß ihr Nichtverstehen Ausdruck ihrer Unschuld war, weshalb er ihre Gegenfrage außer acht ließ und statt dessen fragte: »Und dieser kleine Mann, dieser Signor da Pré? Was hat er getan, Signorina? Hat er Ihnen gedroht?«
»Er wollte Geld. Ich habe ihm gesagt, daß ich nur Gottes Willen getan habe, aber da hat er geantwortet, es gibt keinen Gott und keinen Willen. Das war Gotteslästerung. Er hat des Herrn gespottet.«
»Und das haben Sie nostro signore gesagt?«
»Nostro signore ist ein Heiliger«, behauptete sie.
»Er ist wahrhaft ein Mann Gottes«, pflichtete Brunetti ihr bei. »Und hat er Ihnen gesagt, was Sie tun sollen?« fragte er.
»Er hat mir gesagt, was Gottes Wille ist, und ich bin hingeeilt, um ihn zu tun. Er hat mir gesagt, Sünde und Sünder gehören vernichtet. Es mußte verhindert werden, daß der kleine Mann Schande über Gottes heiligen Auftrag brachte.« Hier lachte sie, daß es Brunetti kalt überlief. »Seine Habgier hat ihn vernichtet. Ich habe zu ihm gesagt, daß ich ihm das Geld bringe, und er hat mich eingelassen. Er hat der Rache des Herrn die Tür geöffnet.«
»Hatte nostro signore Ihnen gesagt, daß Sie ihn...?« begann Brunetti, aber in diesem Moment kam der Arzt mit drei Pflegern ins Zimmer gestürzt, und in dem Lärm und dem Durcheinander war Signorina Lerini für ihn verloren.
Zu guter Letzt wurde Signorina Lerini, nachdem man ihr den gebrochenen Ellbogen reponiert und geschient hatte, auf die Psychiatriestation gebracht, wo sie starke Beruhigungsmittel bekam und rund um die Uhr bewacht wurde. Brunetti wurde im Rollstuhl in die chirurgische Ambulanz verfrachtet, wo man ihm eine Spritze gegen die Schmerzen gab und mit vierzehn Stichen die Armwunde nähte. Der von der Krankenschwester, die den ganzen Vorfall beobachtet hatte, ins Krankenhaus gerufene Chefarzt der Psychiatrie verbot jeglichen Besuch bei Signorina Lerini, deren Zustand er, ohne sie gesehen zu haben, als »sehr ernst« diagnostizierte. Der Arzt und die Krankenschwester, die Brunettis Gespräch mit Signorina Lerini mit angehört hatten, konnten auf Befragen keine näheren Angaben machen, nur ihren Eindruck wiedergeben, daß viel religiöses Geschwafel darin enthalten war. Brunetti wollte noch wissen, ob sie sich erinnerten, daß er Signorina Lerini nach ihrem Vater und Signor da Pré gefragt hatte, aber für sie war alles nur wirres Zeug gewesen.
Um Viertel vor sechs fand Pucetti sich vor Maria Testas Zimmer ein, wo er von Brunetti nichts sah und hörte, obwohl der Regenmantel des Commissario über einem Stuhl hing. Als er die Blutspuren auf dem Fußboden sah, galt sein erster Gedanke der Sicherheit der Frau. Er eilte ans Bett, doch als er darauf hinunterblickte, sah er, daß ihre Brust sich immer noch beim Atmen hob und senkte. Dann schaute er in ihr Gesicht und sah, daß sie die Augen offen hatte und zu ihm heraufstarrte.
21
B runetti erfuhr von der Veränderung in Maria Testas Zustand erst kurz vor elf, als er, den verwundeten Arm in einer Schlinge, in der Questura ankam. Gleich darauf war Vianello bei ihm. »Sie ist wach«, sagte er ohne Vorrede.
»Maria Testa?« fragte Brunetti, obwohl er es gleich wußte.
»Ja.«
»Was noch?«
»Ich weiß nicht. Pucetti hat hier gegen sieben angerufen und diese Nachricht hinterlassen, aber ich selbst habe sie erst vor einer halben Stunde bekommen. Als ich im Krankenhaus anrief, waren Sie schon fort.«
»Wie geht es ihr?«
»Das weiß ich nicht. Nur, daß sie wach ist. Als Pucetti das den Ärzten sagte, sind offenbar drei von ihnen zu ihr ins Zimmer gegangen und haben ihn hinausgeschickt. Er nimmt an, sie wollten irgendwelche Untersuchungen vornehmen. Da hat er hier angerufen.«
»Sonst hat er nichts gesagt?«
»Soviel ich weiß, nicht, Commissario.«
»Und was ist mit der Lerini?«
»Wir wissen nur, daß sie ruhiggestellt wurde und niemand zu ihr darf.« Das war nicht mehr, als was Brunetti schon gewußt hatte, als er das Krankenhaus verließ.
»Danke, Vianello«, sagte er.
»Haben Sie sonst noch etwas für mich zu tun, Commissario?« fragte Vianello.
»Im Moment nicht. Ich gehe später noch mal ins Krankenhaus.« Er schüttelte seinen Regenmantel ab und warf ihn über einen Stuhl. Bevor Vianello hinausging, fragte Brunetti: »Der
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