Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
gegangen sei; oder beschlossen habe, nach Patagonien auszuwandern und Schafe zu hüten.
»Brunetti«, sagte er.
»Commissario, hier Pucetti«, sagte der junge Beamte. »Ich bin in einer Telefonzelle am Hafen. Eben ist ein Boot hereingekommen. Die haben eine Leiche aufgefischt.«
»Wer ist es?«
»Keine Ahnung.«
»Mann oder Frau?« fragte er, denn bei dem Gedanken an Signorina Elettra blieb ihm fast das Herz stehen.
»Das weiß ich auch nicht, Commissario. Einer der Fischer ist vor einer Minute hereingekommen und hat es den Männern an der Bar gesagt, worauf wir alle hinausgegangen sind, um uns dies anzusehen.« Brunetti hörte Geräusche im Hintergrund, dann wurde der Hörer aufgelegt.
Er legte ebenfalls auf und ging ins Schlafzimmer. Paola blickte auf und sah sein Gesicht. Sie hatte ein schwarzes Kleid an, eng um die Hüften und sehr tief ausgeschnitten am Rücken, ein Kleid, das er noch nie zuvor gesehen zu haben glaubte. Gerade hatte sie sich den zweiten Ohrring anstecken wollen, doch als sie ihn sah, ließ sie beide Hände sinken. »Na ja, so gern wollte ich da auch gar nicht hin«, sagte sie, indem sie den Ohrring wieder in die Schublade ihres Toilettentischs warf, die obere, in der sie sowohl ihren Schmuck als auch ihre diversen Vitaminpillen aufbewahrte, letzteres aus Gründen, hinter die er nie gekommen war. In ganz beiläufigem Ton, mit dem sie im Laden ein halbes Dutzend Eier hätte verlangen können, erklärte sie: »Ich rufe Mariella an.«
Er kannte Männer, die vor ihren Frauen Geheimnisse hatten. Er kannte einen verheirateten Mann, der sich zwei Mätressen hielt, und zwar seit über zehn Jahren. Er kannte Männer, die ihr Unternehmen und ihr Haus verloren hatten, bevor ihre Frauen auch nur ahnten, daß sie spielten. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob Paola wohl dem Teufel ihre Seele verkauft hatte, um die mystische Fähigkeit zu erlangen, seine Gedanken zu lesen. Aber nein, für so einen schlechten Handel war sie viel zu klug. »Oder willst du zuerst in der Questura anrufen?« fragte sie.
Er wollte schon anfangen, ihr zu erklären, worum es ging, unterbrach sich aber, als könnte er Signorina Elettras Sicherheit mit Schweigen gewährleisten. »Ich benutze das telefonino«, sagte er und nahm es von der Kommode, auf der er es in Erwartung eines friedlichen Abends bei Freunden deponiert hatte. Paola ging für ihren Anruf hinunter ins Wohnzimmer, und er wählte die wohlbekannte Nummer der Questura und forderte ein Boot an, das ihn abholen und nach Pellestrina hinausbringen solle. Er drückte den kleinen blauen Knopf, wählte Vianellos Nummer und drückte eingedenk der Anweisungen, die er bei der Übernahme des Mobiltelefons bekommen hatte, noch einmal den blauen Knopf.
Vianellos Frau meldete sich. Als sie hörte, wer am Apparat war, hielt sie sich nicht lange mit Höflichkeiten auf, sondern sagte gleich, sie werde Lorenzo holen. Das Radar einer Polizistenfrau wußte sofort, wann ein Abend verdorben war. Manche machten dazu gute Miene, andere nicht.
»Ja?« meldete sich der Sergente.
»Pucetti hat eben angerufen. Aus einer Telefonzelle. Sie haben eine Leiche aufgefischt.«
»Ich warte am Anleger Giardini«, sagte Vianello und legte auf.
Fünfzehn Minuten später war er da, aber nicht in Uniform und hob auch nur kurz die Hand zur Begrüßung, als das Boot mit Brunetti kam und gar nicht erst anlegte, sondern nur die Fahrt verlangsamte, um ihn an Bord springen zu lassen. Vianello nahm an, daß er schon alles gesagt bekommen hatte, was Brunetti wußte, und vertat deshalb keine Zeit mit Fragen. Auch Signorina Elettras Namen sprach er nicht aus.
»Nadia?« fragte Brunetti in der Kürzelsprache langer Zusammenarbeit.
»Ihre Eltern wollten uns zum Essen ausführen.«
»Besonderer Anlaß?«
»Unser Hochzeitstag«, antwortete Vianello.
Statt sich zu entschuldigen, fragte Brunetti: »Der wie-vielte?«
»Der fünfzehnte.«
Das Boot schwenkte nach rechts und trug sie in Richtung Malamocco und Pellestrina. »Ich habe veranlaßt, daß ein Spurensicherungstrupp herauskommt«, sagte Brunetti. »Aber das Boot muß die alle erst einsammeln, sehr bald werden sie also nicht draußen sein.«
»Wie wollen wir erklären, daß wir so schnell draußen sind?« fragte Vianello.
»Ich sage, jemand hat uns angerufen.«
»Dann hat hoffentlich keiner Pucetti telefonieren sehen.«
Brunetti, der selbst nahezu nie sein Mobiltelefon bei sich hatte, fragte: »Wieso hat man ihm kein telefonino gegeben?«
»Die
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