Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
nicht beantwortet hatte, wiederholte Brunetti ihn. »Wann war das?«
Der Mann sah auf seine Uhr. »Vor einer guten Stunde. Ich hatte sie auf einmal im Netz, aber dann hab ich lange gebraucht, sie längsseits zu holen.« Sein Blick ging zwischen Brunetti und Vianello hin und her, als wollte er sehen, wer von den beiden ihm wohl am ehesten glauben würde. »Ich war allein auf meinem Boot und hatte Angst, womöglich zu kentern, wenn ich sie an Bord gehievt hätte.«
»Was haben Sie also getan?«
»Sie hereingeschleppt«, sagte er, und offensichtlich gestand er das nur sehr ungern. »Ich konnte sie nur so hierherbekommen.«
»Haben Sie die Frau erkannt?« fragte Brunetti.
Der Mann nickte.
Froh, daß er Signora Follini nicht ansehen mußte, blickte Brunetti der Reihe nach in die Gesichter der Umstehenden, Signorina Elettra war nicht dabei. Wenn die Leute auf die Leiche schauten, verschwanden ihre Gesichter im Schatten der eigenen Köpfe, aber die meisten taten das sowieso lieber nicht. »Wann hat jemand von Ihnen sie zuletzt gesehen?«
Keiner antwortete.
Er sah die einzige Frau in der Gruppe fest an. »Sie, Signora«, sagte er mit sanfter Stimme, in der nur Wißbegier lag, kein Hauch von Autorität. »Können Sie sich erinnern, wann Sie Signora Follini zuletzt gesehen haben?«
Die Frau blickte zuerst ihn mit furchtsamen Augen an, dann nach rechts und links. Endlich sprudelte es hastig aus ihr heraus: »Vor einer Woche. Oder fünf Tagen. Da war ich in ihrem Laden und habe Toilettenpapier gekauft.« Plötzlich schien ihr bewußt zu werden, was sie da vor all den versammelten Männern gesagt hatte, denn sie schlug sich die Hand vor den Mund und blickte zu Boden, dann aber schnell wieder zu ihm auf.
»Wir sollten vielleicht von hier weggehen«, meinte Brunetti, wobei er sich schon in Richtung der hellerleuchteten Häuserfenster begab. Vom Dorf her kam ihnen ein Mann mit einer Decke über dem Arm entgegen. Als er auf die Leiche zuging, zwang Brunetti sich zu sagen: »Lassen Sie das lieber. Niemand sollte die Leiche anrühren.«
»Es ist doch nur aus Respekt, Signore«, sagte der Mann, ohne die Tote anzusehen. »Man sollte sie hier nicht so liegen lassen.« Er hatte sich die Decke zusammengefaltet über den Arm gelegt, was einen sonderbar förmlichen Eindruck machte.
»Tut mir leid, aber es ist besser so«, sagte Brunetti, ohne sich anmerken zu lassen, wie gut er den Wunsch des Mannes verstand. Das Verbot, Signora Follini zuzudecken, kostete ihn wahrscheinlich das bißchen Sympathie, das er sich damit erworben haben mochte, daß er die Menge von der Toten weggeführt hatte.
Vianello, der das spürte, ging noch ein paar Schritte weiter aufs Dorf zu, faßte die Frau leicht am Arm und sagte: »Ist Ihr Mann hier, Signora? Vielleicht könnte er Sie nach Hause bringen.«
Die Frau schüttelte den Kopf und befreite ihren Arm, aber langsam, wie um nicht den Anschein zu erwecken, daß sie sich gekränkt fühlte oder ihrerseits kränken wollte. Sie ging weiter auf die Häuser zu und überließ die Angelegenheit den Männern.
Vianello kam zu dem Mann zurück, der neben der Frau gestanden hatte. »Können Sie sich erinnern, wann Sie Signora Follini zuletzt gesehen haben, Signore?«
»Irgendwann diese Woche, Mittwoch vielleicht. Meine Frau hatte mich geschickt, Mineralwasser zu kaufen.«
»Wissen Sie noch, wer da vielleicht zur selben Zeit außer Ihnen im Laden war?«
Der Mann zögerte kurz, bevor er antwortete. Brunetti und Vianello merkten es beide, zeigten das aber nicht. »Nein.«
Vianello fragte nicht nach einer Erklärung. Vielmehr wandte er sich wieder an die Menge. »Kann mir sonst noch jemand sagen, wann er sie zuletzt gesehen hat?«
Einer sagte: »Dienstag. Morgens. Da machte sie gerade ihren Laden auf. Ich war auf dem Weg in die Bar.«
Noch einer meldete sich. »Meine Frau hat am Dienstag die Zeitung geholt.«
Da sonst keiner mehr etwas sagte, fragte Vianello: »Kann sich einer erinnern, sie später als am Mittwoch gesehen zu haben?« Niemand antwortete. Vianello zog sein Notizbuch aus der Gesäßtasche, öffnete es und sagte: »Dürfte ich Sie bitten, mir Ihre Namen zu nennen?«
»Wozu?« wollte der Mann mit der Decke wissen.
»Wir werden mit jedem im Dorf sprechen müssen«, antwortete Vianello in ruhigem Ton, als hätte er die Frage oder die Schärfe, mit der sie gestellt worden war, gar nicht zur Kenntnis genommen. »Wenn ich also Ihre Namen habe, brauchen wir Sie alle hier nicht noch einmal zu
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