Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
sie, zumindest für den Augenblick. »Aber es stimmt - keiner mag sie mehr so richtig gern essen. Es muß - was weiß ich - Kaviar sein oder Hummerschwänze oder...«
»Und dabei hängt ihnen in Wahrheit die Zunge heraus vor Gier nach einem panino mit Mortadella«, unterbrach er sie, »und mit so viel Mayonnaise dazwischen, daß sie hinten am Kinn hinunterläuft.« Damit hakte er sie so selbstverständlich unter, als gingen sie jeden Tag miteinander zum Picknick, und führte sie in Richtung Damm und Strand.
Am Wellenbrecher angekommen, sprang Carlo auf den ersten der riesigen Steinbrocken, drehte sich um und reichte ihr die Hand, um ihr hinaufzuhelfen. Als sie neben ihm stand, hakte er sie unter, und sie stellte erfreut fest, daß er sie nicht auf jedes Steinchen und jede Unebenheit aufmerksam machte, als hätte sie selbst keine Augen im Kopf. Nachdem sie etwa den halben Weg zurückgelegt hatten, blieb er stehen und beugte sich über den Rand, um die Steine darunter in Augenschein zu nehmen. Er sagte, sie solle kurz warten, dann sprang er auf einen Steinbrocken, der unter ihnen in einem prekären Winkel vorstand. Er reichte ihr wieder die Hand, und sie sprang zu ihm hinunter. Der Wellenbrecher hatte an dieser Stelle ein riesengroßes Loch in der Seite, wo ein Sturm ein paar Steine weggerissen hatte; so war eine Höhle entstanden, die gerade groß genug für zwei Personen war. Das Nichtvorhandensein herumliegender Zigarettenkippen oder Lebensmittelverpackungen bewies, daß die Höhle bisher noch der Entdeckung durch die Pellestrinotti entgangen war.
Der Höhlenboden glich einem Teppich aus weißem Sand, und eine Laune der Fluten hatte einen oben ganz flachen Stein so in der Rückwand stecken und nach vorn herausragen lassen, daß er einen idealen Tisch bildete. Carlo deckte ihn rasch mit den Sachen aus seinem Rucksack. Dann saßen sie im Schneidersitz auf dem Sandteppich und ließen es sich munden, während die Nachmittagssonne schräg zu ihnen hereinfiel und die Wellen gegen die Steine unter ihnen plätscherten.
Elettra fand das Picknick auch ohne Mortadella perfekt, nicht nur wegen der opulenten Schinkenbrote mit dick Butter auf beiden Scheiben und der gekühlten Flasche Chardonnay, auch nicht wegen der Erdbeeren, die dann folgten und - allem Kalorienbewußtsein zum Trotz - einzeln in Mascarpone getunkt werden wollten. Perfekt war das Picknick auch wegen der Gesellschaft, die sie hatte: Carlo hörte ihr zu, als ob sie alte Freunde wären, und sprach mit ihr, als würde er sie schon seit vielen, nur glücklichen Jahren kennen.
Er fragte sie nach ihrem Beruf, und sie antwortete, sie arbeite bei einer Bank: sehr langweilig, aber bei der rasant zunehmenden Arbeitslosigkeit ringsum ein beruhigend sicherer Posten. Als sie ihn dann ihrerseits fragte, sagte er, er sei Fischer, und beließ es dabei. Erst durch vorsichtiges Nachhaken bekam sie ihn dazu, ihr zu erzählen, daß er nach dem Tod seines Vaters vor zwei Jahren sein Studium abgebrochen habe und nach Burano zu seiner Mutter zurückgekehrt sei. Es gefiel ihr, wie er darüber sprach - als sei es ihm gar nicht bewußt, mit welcher Selbstverständlichkeit er die Verantwortung für seine Mutter übernommen hatte.
Während sie über ihre Familien und ihre jeweiligen Hoffnungen sprachen, wurde Elettra sich einer anwachsenden Unterströmung von Erregung bewußt, ohne daß irgend etwas von dem, was sie sagten oder taten, als Auslöser dafür hätte benannt werden können. Je länger sie ihm zuhörte, desto mehr hatte sie das Gefühl, dieser Stimme schon früher gelauscht zu haben, und sie wollte sie, wie ihr zunehmend bewußt wurde, auch sehr gern wieder hören.
Als die Brote aufgegessen, der Wein getrunken, die letzten Reste Mascarpone von gierigen Fingern geleckt waren, sah sie ihm zu, wie er gewissenhaft alles Einwickelpapier und die Servietten, die ihnen als Teller gedient hatten, einsammelte und in den leeren Rucksack steckte. Er sah, daß sie sein Tun beobachtete, und meinte grinsend: »Ich mag es nun mal nicht, wenn die Strände voller Unrat sind.« Mit verlegenem Achselzucken zog er einen Mundwinkel hoch und schnitt eine Grimasse, die sie inzwischen schon kannte und nett fand. »Es ist wahrscheinlich dumm, sich damit aufzuhalten, aber es ist doch so eine kleine Mühe.«
Sie beugte sich zu ihm hinüber und stopfte ihre Serviette über der seinen in den Rucksack. Dabei streifte ihre Brust seinen Arm, und sie erschrak richtig über die Gewalt ihrer Reaktion, die
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