Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
die Fingernägel auszureißen.«
»Er ist bloß zwei Jahre jünger als einige meiner Studenten«, sagte Paola, nahm sich einen Apfel und begann ihn zu schälen. »Wenn ich so was bei ihm anfinge, dann hätte ich Angst, wozu ich mich erst bei den Studenten hinreißen lassen könnte. Der Geruch von Teenagerblut könnte mich um den Verstand bringen.«
»Gar so schlimm kann's doch nicht sein?« meinte Brunetti forschend.
Als sie ihren Apfel geschält hatte, schnitt Paola ihn in acht Stücke und entfernte geschickt das Kerngehäuse. Bevor sie antwortete, spießte sie den ersten Apfelschnitz auf ihre Obstgabel und schob ihn in den Mund. »Nein, wahrscheinlich ist es nicht so schlimm wie in deinem Beruf. Aber glaub mir, es gibt Tage, da sehne ich mich danach, in einer Zelle eingesperrt zu sein: zusammen mit zwei kräftigen Polizisten, einem Studenten und einem stattlichen Arsenal von Folterinstrumenten. «
»Warum ist es plötzlich so schlimm?« fragte Brunetti.
»Plötzlich kann man es eigentlich nicht nennen. Es ist eher so, daß ich gemerkt habe, wie schlimm es mit der Zeit geworden ist.«
»Gib mir ein Beispiel.«
»Also vor zehn Jahren konnte ich sie noch zu der Einsicht bekehren oder ihnen zumindest das Lippenbekenntnis abringen, daß die Kultur, die mich geprägt hat, all die Bücher und die großen Denker, mit denen unsere Generation aufgewachsen ist - Platon, Vergil, Dante -, also daß diese Kultur dem, was ihr Leben bestimmt, irgendwie überlegen war. Oder wenn nicht überlegen, dann zumindest interessant genug, um sich damit auseinanderzusetzen.« Sie aß noch drei Apfelschnitze und eine dünne Scheibe Montasio, bevor sie weitersprach. »Aber die Zeiten sind vorbei. Für die heutigen Jugendlichen ist ihr egozentrischer Lebensstil, sind ihre grölenden Stars, die schneller wechseln als die Jahreszeiten, all unserem törichten Bildungsgut anscheinend haushoch überlegen.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel der zweifellos lächerlichen Vorstellung, daß Schönheit irgendeiner Norm oder einem Ideal verpflichtet ist; oder dem naiven Glauben, daß wir die Wahl haben, ehrenhaft zu handeln, und sie nutzen sollten; oder dem rückständigen Traum, der tiefere Sinn menschlicher Existenz erschöpfe sich nicht in der Anhäufung von Geld und Statussymbolen.«
»Kein Wunder, daß es dich nach diesen Folterinstrumenten gelüstet«, sagte Brunetti und machte den Calvados auf.
8
A m Nachmittag, als er mit dem dumpfen Gefühl, etwas zu üppig getafelt zu haben, wieder in seinem Büro saß, beschloß der Commissario, seine Erkundigungen bei seinem Freund Lele Bortoluzzi fortzusetzen; auch er eine wichtige Quelle für die Art von Auskünften, mit denen man sich anderswo womöglich eine Klage wegen übler Nachrede eingehandelt hätte. Normalerweise hätte er Lele in seiner Galerie aufgesucht, aber der Calvados (auch wenn er sich sagte, daß er kaum daran genippt habe) machte ihn ein wenig benommen, weshalb er lieber zum Telefon griff.
» Si «, meldete sich Lele nach dem zweiten Klingeln.
»Ciao, Lele«, sagte Brunetti, ohne seinen Namen zu nennen. »Ich müßte mal wieder dein Archiv durchstöbern, diesmal auf der Suche nach einem gewissen Luca Guzzardi, der...«
»Quel figlio di mignottta!« unterbrach ihn Lele mit so zornbebender Stimme, wie Brunetti sie bislang nicht an ihm kannte.
»Du erinnerst dich also an ihn.« Brunetti lachte, um seine Verblüffung zu überspielen.
»Und ob ich mich an ihn erinnere«, sagte Lele. »Der Scheißkerl hat gekriegt, was er verdiente. Schade bloß, daß er so früh gestorben ist: Er hätte länger am Leben bleiben und dort draußen ein Schattendasein fristen sollen.«
»In San Servolo?« fragte Brunetti, obwohl ziemlich eindeutig war, was sein Freund meinte.
»Wo er hingehörte. Besser als in jedes Gefängnis, in das sie den Mistkerl hätten stecken können. Die anderen armen Teufel, die dort einsaßen, haben mir leid getan: Keiner von denen hatte es verdient, so zu leben, schlimmer als ein Tier. Aber Guzzardi verdiente das alles und mehr.«
Brunetti wußte, daß er den Grund für Leles leidenschaftliche Empörung bald erfahren würde. Trotzdem hakte er nach: »Du hast noch nie von ihm gesprochen. Merkwürdig, wenn du so gegen ihn eingenommen bist.«
»Er war ein Dieb und ein Verräter«, sagte Lele, »genau wie sein Vater. Die schreckten vor nichts zurück, hätten jeden ans Messer geliefert.«
Brunetti fiel auf, daß Lele die Guzzardis noch viel heftiger verdammte als der
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