Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
sich keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung fanden, hegte er kaum einen Zweifel, daß der Mörder derselbe war, der ihre Adoptivenkelin umgebracht hatte. Brunetci dachte an Galileo und an das, was er seinen Gegnern geantwortet hatte. »Eppur si muove«, flüsterte er und ging an die Tür, um Vianello und seine Kollegen hereinzulassen.
Es ist ein Gebot der Logik, daß eine Aufgabe leichter und ihre Durchführung einfacher wird, je öfter man sie wiederholt. Demnach müßte die Spurensicherung am Tatort von Mal zu Mal rascher vonstatten gehen, besonders in einem Fall wie diesem, wo eine alte Frau tot neben ihrem Sessel lag, ohne jedes Anzeichen von Gewaltanwendung oder unbefugtem Eindringen. Hier jedoch zog sich jeder Arbeitsgang unerträglich in die Länge. Aber vielleicht, dachte Brunetti, liegt das nur an meinem subjektiven Zeitempfinden, und die Fingerabdruckexperten und Fotografen arbeiteten in Wahrheit so flink und routiniert wie immer. Als er sie aufforderte, Fotos zu machen und Fingerspuren zu sichern, spürte er natürlich ihre unausgesprochene Skepsis dagegen, daß er den Leichenfundort von vornherein zum Schauplatz eines Verbrechens erklärte. Was konnte schließlich eindeutiger für sich selbst sprechen als dieses Szenario: eine alte Frau, die aus ihrem Sessel gestürzt, und ein Arzneifläschchen, das von ihr weg durchs halbe Zimmer gerollt war?
Auch Rizzardi, der als letzter eintraf, schien sich zu wundern, wieso man ihn gerufen hatte und nicht den Hausarzt der Signora, aber er war zu gut mit Brunetti befreundet, um seine Entscheidung in Frage zu stellen. Statt dessen erklärte er die Frau offiziell für tot, nachdem er den Leichnam kurz untersucht hatte, äußerte die Vermutung, daß die Signora in der vergangenen Nacht gestorben sei, und ließ sich nicht weiter anmerken, ob er Brunettis Wunsch nach einer Obduktion befremdlich fand.
»Und wenn man von mir eine Begründung verlangt?« fragte er nur, als er sich erhob.
»Mach dir deswegen keine Gedanken, ich besorge eine richterliche Anordnung«, antwortete Brunetti.
»Du hörst von mir.« Der Doktor bückte sich und wischte sich Aschestäubchen von den Knien.
»Danke.« Brunetti war erleichtert, daß der Gerichtsmediziner ihn mit neugierigen Fragen verschonte, die er nicht hätte beantworten können.
Stunden schienen vergangen, als Brunetti sich endlich mit Vianello allein in der Wohnung wiederfand, aber der Lichteinfall vom Fenster her bezeugte, daß immer noch Vormittag war. Noch nicht eins, wie der Commissario mit einem Blick auf seine Uhr überrascht feststellte; und doch war soviel innere Zeit verstrichen, waren entsetzliche Dinge passiert.
»Magst du Mittagessen gehen?« fragte Brunetti und merkte, wie leicht es ihm fiel, Vianello zu duzen. Gewiß leichter als bei den meisten seiner Kollegen.
»Also das, was in der Küche ist, werden wir ja wohl nicht essen, oder?« fragte Vianello lächelnd und setzte dann, ernst werdend, hinzu: »Aber vielleicht schauen wir uns vorher hier noch ein bißchen um.«
Brunetti brummte zustimmend, blieb aber, wo er war, und ließ sinnend den Blick durch den Raum schweifen.
»Wonach suchen wir?« erkundigte sich Vianello.
»Keine Ahnung. Irgendwas im Zusammenhang mit den Bildern und den anderen Kunstwerken«, antwortete er und wies mit ausladender Geste auf all die Kostbarkeiten im Raum. »Eine Kopie ihres Testaments oder einen Hinweis darauf, wo es deponiert sein könnte. Den Namen eines Notars oder seine Quittung.«
»Also Papiere?« fragte Vianello, knipste im Flur das Licht an und pflanzte sich vor einem der Bücherregale auf. Und als Brunetti zustimmend nickte, griff er sich das erste Buch aus dem obersten Fach, wog es in der rechten Hand, klappte es mit der linken auf und blätterte es erst von hinten nach vorn und dann noch einmal in umgekehrter Richtung durch. Als er sich überzeugt hatte, daß nichts zwischen den Seiten versteckt war, bückte er sich, legte das Buch rechts neben sich ab und zog das nächste aus dem Regal.
Brunetti nahm die Papiere aus der obersten Schreibtischlade, trug sie hinüber in die Küche und legte sie dort auf den Tisch. Er holte sich einen Stuhl, setzte sich und zog den Stapel Papiere zu sich heran.
Einige Zeit später - Brunetti machte sich nicht einmal die Mühe, auf die Uhr zu schauen, um nachzusehen, wie lange es gedauert hatte - kam Vianello in die Küche, trat ans Spülbecken, wo er sich eine Staubschicht von den Händen wusch, dann das Wasser laufen ließ, bis es
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