Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
sie es so«, sagte Brunetti.
»Mag sein«, gab Signorina Elettra widerstrebend zu.
»Vielleicht genügte es ihr, die Bilder um sich zu haben«.
»Wäre Ihnen das genug gewesen?« fragte sie.
»Ich bin keine dreiundachtzig«, sagte Brunetti. Dann wechselte er das Thema und fragte: »Was ist mit London?«
Sie reichte ihm ein Blatt Papier. »Ich hab's ja gesagt: Die Briten sind uns in solchen Dingen weit voraus.«
Brunetti überflog das Blatt und erfuhr, daß Benito Guzzardi, geboren 1942 in Venedig, 1995 in Manchester an Lungenkrebs gestorben war. Claudias Geburtsschein, der vor einundzwanzig Jahren in London ausgestellt worden war, vermerkte statt der Eltern nur die Mutter, Petra Leonhard. Weder über die Eheschließung noch über den Tod des Vaters gab es irgendwelche Unterlagen. »Das erklärt den Nachnamen, nicht wahr?« fragte er.
Signorina Elettra schob ihm eine Kopie von Claudias Immatrikulationsantrag hin. »Es war ganz leicht. Sie hat einfach Papiere mit dem Namen Leonhard eingereicht und die Schreibung in Leonardo geändert.«
Bevor Brunetti weiterfragen konnte, sagte Signorina Elettra: »In Claudias Paß war ihre Tante als nächste Angehörige eingetragen, die zu benachrichtigen sei, falls dem Mädchen etwas zustieße.«
»Die Tante in England?«
»Ja. Ich habe sie angerufen. Sie wußte noch gar nicht, daß Claudia tot ist. Hier hatte niemand daran gedacht, sie zu benachrichtigen. «
»Wie hat sie's aufgenommen?«
»Es hat sie schwer getroffen. Sie sagte, Claudia habe seit frühester Kindheit die Sommerferien bei ihr verbracht.«
»Ist sie die Schwester der Mutter oder des Vaters?«
»Nein.« Signorina Elettra schüttelte den Kopf über diese verworrenen Familienverhältnisse. »Es ist wie mit der Großmutter. Sie ist eigentlich gar nicht ihre Tante, aber Claudia hat sie immer so genannt. Sie war die beste Freundin der Mutter.«
»War? Also ist die Mutter doch tot?«
»Nein. Verschwunden.« Und bevor Brunetti weiterfragen konnte, erklärte sie: »Aber nicht im üblichen Sinne. Ihr ist nichts zugestoßen. Die Tante sagte, sie sei einfach einer dieser Freigeister, die kommen und gehen, wie es ihnen beliebt.« Hier hielt sie inne und reichte dann ihren eigenen Kommentar nach: »Und es anderen Leuten überlassen, die Scherben aufzusammeln.« Als Brunetti schwieg, fuhr sie fort: »Die Frau in England hat ein paar Monate nach dem Tod des Vaters zum letztenmal von ihr gehört. Da bekam sie eine Postkarte aus Bhutan mit der Bitte, sie möge sich um Claudia kümmern und ein bißchen auf sie aufpassen.«
Aus dem Gefühl heraus, das tote Mädchen noch nachträglich beschützen zu müssen, und entrüstet darüber, daß ihre Mutter sie einfach so abgeschoben hatte, rief Brunetti: »Auf sie aufpassen? Wie alt war sie - fünfzehn, sechzehn? Was sollte sie denn machen, während ihre Mutter ihrer inneren Harmonie nachspürte oder was immer die Leute in Bhutan suchen?«
Da es auf Fragen wie diese keine Antwort gibt, wartete Elettra, bis sein Zorn sich ein wenig gelegt hatte, und sagte dann: »Die Tante hat mir erzählt, daß Claudia bis zum Tod ihres Vaters bei den Eltern gelebt hat, sich dann aber entschloß, nach Italien zurückzukehren, wo sie in Rom auf eine Privatschule ging. Ich denke, um die Zeit wird sie auch Verbindung mit Signora Jacobs aufgenommen haben. In den Sommerferien fuhr sie jeweils zurück nach England und wohnte bei der Tante.«
Während er Signorina Elettra zuhörte, wie sie Claudias Geschichte darlegte, beruhigte sich Brunetti ein wenig, und nach einer Weile sagte er: »Claudia hat mir erzählt, ihre Eltern hätten nie geheiratet, aber ihr Vater habe sie als seine Tochter anerkannt.«
Signorina Elettra nickte. »Das deckt sich mit dem, was die Frau am Telefon gesagt hat.«
»Mithin war Claudia Guzzardis Erbin«, folgerte Brunetti.
»Ein sehr kümmerliches Erbe, allem Anschein nach«, sagte Signorina Elettra. Dann blickte sie mit schräg geneigtem Kopf zu ihm auf und setzte hinzu: »Es sei denn...«
»Ich weiß nicht, wie die Gesetzeslage ist, wenn jemand im Besitz von Wertgegenständen stirbt, deren Eigentümerschaft ungeklärt ist«, sagte Brunetti, der ihre Gedanken erraten hatte. »Andererseits ist es nicht üblich, das Eigentumsrecht auf Dinge anzuzweifeln, die sich zum Zeitpunkt des Todes beim Erblasser befinden.«
»Normalerweise nicht, nein«, stimmte Signorina Elettra zu. »Aber in diesem Fall...« Und sie verstummte in einer Beschwörung des Möglichen.
»Unter ihren
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