Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
deutsche Großmutter, aber bevor er Signorina Elettra bitten würde, in diese Richtung zu ermitteln, wollte er abwarten, was hier in Venedig und in London herauszufinden war.
Auf dem Weg nach oben fiel ihm eine Strophe aus einem alten Gedicht ein, das Paola ihm vor Jahren unbedingt hatte vorlesen wollen und das, wenn er sich recht erinnerte, von einem Drachen handelte, der auf einem herrenlosen Schatz saß und feuerspeiend alle, die sich ihm näherten, in die Flucht schlug. Brunetti wußte nicht recht, warum ihm diese Verse gerade jetzt in den Sinn kamen, aber er hatte eine seltsame Vision von Signora Jacobs, wie sie auf ihren Schätzen hockte, bereit, jeden zu vernichten, der sich an ihrem Hort vergreifen wollte.
Kurz vor seinem Büro überlegte er es sich anders, ging wieder nach unten und verließ die Questura. Es war eine voreilige Entscheidung, das wußte er und auch, daß es nicht klug war, Signora Jacobs, so kurz nachdem sie ihn weggeschickt hatte, wieder zu belästigen, aber sie war der einzige Mensch, der ihm die Herkunft der Kunstschätze in ihrer Wohnung erklären konnte. Trotzdem hätte er sich im Dienstzimmer abmelden sollen; eigentlich müßte er jetzt an seinem Schreibtisch sitzen, Anrufe entgegennehmen und Papiere unterzeichnen; zweifellos hätte er auch Signorina Elettra dafür tadeln sollen, daß sie es Tenente Scarpa gegenüber an Respekt mangeln ließ.
In Anbetracht der Touristenmassen, die um diese Stunde auf die Vaporetti drängten, entschied er sich, zu Fuß zu gehen. Er war zuversichtlich, daß er auf dem Landweg den schlimmsten Horden bis in die Nähe des Rialto würde ausweichen können, und hoffte, daß sich der große Pulk verlaufen würde, sobald er die pescheria hinter sich gelassen hatte. So war es auch, aber schon das kurze Stück, auf dem er sich rempelnd und hakenschlagend durch die Gassen zwischen San Lio und dem Fischmarkt winden mußte, machte ihn verdrießlich und brachte seine stets köchelnde Abneigung gegen das Touristenheer zum Sieden. Warum waren sie so träge und dick und lethargisch?
Warum mußten sie ihm alle den Weg versperren? Warum um Himmels willen konnten sie nicht lernen, sich in einer Stadt zügig fortzubewegen, statt gaffend herumzutrödeln wie Schaulustige auf einem Jahrmarkt, die aufgerufen sind, das fetteste Schwein zu küren?
Seine Stimmung besserte sich, sobald er die letzte Reisegruppe abgehängt hatte und durch menschenleere Straßen dem Campo San Boldo entgegenschritt. Er läutete, bekam aber keine Antwort. Eingedenk einer Taktik, deren Vianello sich bediente, um jemanden aufzuwecken, der bei zu laut aufgedrehtem Fernseher eingeschlafen war, drückte er den Daumen auf die Klingel und nahm ihn erst wieder fort, als er bis hundert gezählt hatte. Er zählte langsam. Es rührte sich immer noch nichts.
Der Mann im Tabakladen hatte gesagt, er brächte der Signora immer die Zigaretten hinauf; also ging Brunetti hinüber, zeigte seinen Dienstausweis vor und fragte den Tabakhändler, ob er einen Schlüssel zu der Wohnung habe.
Der Mann hinter dem Ladentisch schien sich nicht im geringsten dafür zu interessieren, was die Polizei von Signora Jacobs wolle, sondern langte ganz selbstverständlich in seine Kasse und zog einen einzelnen Schlüssel heraus. »Ich habe nur den zum portone unten an der Straße. In die Wohnung hat sie mich immer selber reingelassen.«
Brunetti schloß die schwere Eingangstür auf und stieg die Treppe hinauf. Oben läutete er an der Wohnungstür, doch es kam niemand. Er klopfte, und als von drinnen immer noch kein Laut zu hören war, versuchte er es abermals mit Vianellos Taktik.
Später würde er sagen, er habe es gewußt, habe an dem Schweigen, das auf dem Treppenabsatz gähnte, als er den Daumen von der Klingel nahm, erraten, daß die Tür unverschlossen sein und sich öffnen würde, sobald er die Klinke herunterdrückte. Und wahrscheinlich wußte er da auch schon, daß er sie tot auffinden würde, von ihrem Sessel gestürzt oder gestoßen, mit einem dünnen Blutrinnsal unter der Nase. Trotzdem überraschte es ihn, als sich sein Verdacht bestätigte. Und als er sich fragte, warum er außer einem fassungslosen Staunen nichts weiter empfand, mußte er sich eingestehen, daß er diese Frau nicht gemocht hatte, auch wenn das gewohnheitsmäßige Mitleid mit alten, gebrechlichen Menschen stark genug gewesen war, um seine Abneigung zu überdecken und ihm vorzugaukeln, daß er ihr Anteilnahme und Sympathie entgegenbrachte.
Brunetti riß
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