Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
noch hatte er Lust, die Befragung der Nachbarn der alten Frau in Angriff zu nehmen. Vor allem wollte er nicht an Claudia Leonardo und ihren Tod denken.
Von Filipettos Haus machte er sich zu Fuß auf den Weg Richtung San Lorenzo, aber als er die Brücke vor der griechischen Kirche erreichte, verließ ihn der Mut, und statt direkt zur Questura zu gehen, tauchte er in die Unterführung ein. Er überquerte den Campo Santa Maria Formosa, wo vor dem verlassenen Palazzo eine kurdische Sippe kampierte, die ihre spärliche Habe vor sich ausgebreitet hatte und eng zusammengekauert auf bunten Teppichen hockte. Die Männer trugen gedeckte Anzüge und schwarze Scheitelkäppchen, die langen Röcke und wallenden Schals der Frauen aber schillerten in leuchtenden Rottönen, mit Gelb und Orange vermischt. Die kleine Schar schien sich nicht im geringsten um die vorbeieilenden Passanten zu kümmern; alles, was dieser entrückten Steppenszene noch fehlte, waren ein Lagerfeuer und ein paar Tragesel.
Über den Campo dei Santi Apostoli und vorbei am Kaufhaus Standa wandte Brunetti sich nach rechts und zurück zur Lagune. Er passierte die Scuola della Misericordia und das Steinrelief des turbanbewehrten maurischen Kaufmanns mitsamt seinem Kamel, bog dann wieder rechts ab und ging aufs Geratewohl weiter, bis er zum Vaporettohalt Madonna dell'Orto gelangte. Ein Boot legte gerade ab, doch als der Kapitän ihn kommen sah, schaltete er erst auf Leerlauf und dann in den Rückwärtsgang und stieß zurück zur Anlegestelle. Das Tuckern des Motors klang wie ein Befehl, an Bord zu kommen. Der Matrose schob das Gitter zurück, und Brunetti sprang auf, obgleich er gar nicht die Absicht gehabt hatte, ein Boot zu nehmen.
Als das Vaporetto an den Fondamente Nuove hielt, stieg Brunetti rasch entschlossen in die Linie um, die hinaus zum Friedhof fuhr. Beim Ausstieg dort war er der einzige Mann unter sehr vielen, vorwiegend alten Frauen, die alle Blumen dabeihatten. Wieder, wie schon seit Beginn dieses ungeplanten Ausflugs, folgte er allein seinem Instinkt und ließ gleichsam die Füße den Weg bestimmten.
Im Kreuzgang hielt er sich rechts, dann ging es treppauf und treppab über flache Stufen, bis er vor der Marmortafel stand, hinter der die Gebeine seines Vaters ruhten. Brunetti war fast ebensoalt wie sein Vater, als der gestorben war, und auch er hatte zwei Kinder. Seine Mutter war nach dem Tode ihres Mannes oft hier herausgekommen, um sich mit ihm zu besprechen, und das, obwohl er ihr zu Lebzeiten bei keiner Entscheidung sonderlich geholfen hatte. Einmal hatte Brunetti sie darauf angesprochen, aber sie sagte nur, es täte ihr gut, sich hin und wieder jemandem nahe zu fühlen. Jahre vergingen, bevor er die harsche Kritik, die hinter dieser Bemerkung steckte, annahm, aber da war seine Mutter schon jeglicher Liebe und Fürsorge entglitten und abgedriftet in die Gefilde der Senilen und geistig Verwirrten, und so hatte er sie nie um Verzeihung bitten oder Wiedergutmachung leisten können.
Die Blumen in der kleinen Silbervase vor der Grabplatte waren frisch, doch Brunetti hatte keine Ahnung, von wem sie stammten: vielleicht von seinem Bruder oder der Schwägerin? Ganz gewiß nicht von deren Kindern oder den seinen: So etwas wie Totenkult war der heutigen Jugend offenbar gleichgültig, weshalb die Gräber seiner Generation vermutlich einmal ohne Blumenschmuck und Besuche würden auskommen müssen. Wer würde, wenn Paola einmal nicht mehr war, noch den Weg zum Friedhof finden, nur um mit ihm zu reden? Hätte man ihn gefragt, wieso er davon ausging, daß er als erster sterben würde, oder wäre Brunetti auf die Idee gekommen, sich die Frage selbst zu stellen, dann hätte er wohl auf all jene Statistiken verwiesen, denen zufolge die Männer zuerst starben und die Frauen allein weiterlebten. Dabei gründete seine Annahme in Wahrheit wohl eher in beider unterschiedlichem Naturell: Während Paola sich in der Regel für das Lichte, Helle und den bejahenden Sprung ins Leben entschied, blieb er lieber im Hintergrund, wo die Dinge weniger gut beleuchtet waren, ihm aber die Zeit ließen, sich in Ruhe darauf einzustellen, bevor er eine Entscheidung traf.
Die Rechte auf den Namenszug seines Vaters gelegt, verharrte er einen Moment und ließ den Blick nach links über die lange Reihe von Grabplatten schweifen, die in gerader Linie eine über der anderen angeordnet waren und alle gleich viel Raum einnahmen. Bald schon würden auch Claudia Leonardo und Signora Jacobs hier
Weitere Kostenlose Bücher