Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
ihren Platz finden. In dem gepflegten Areal hinter ihm erhoben sich die Grabmäler der Reichen, riesige Marmormonumente in allen Formen und Stilen. Er dachte an Iwan Iljitsch, der die Seinen zum Verzicht aufgerufen hatte, und er dachte an Ozymandias, den König der Könige, und seine abgrundtiefe Verzweiflung; vor allem aber beschäftigte ihn der Gedanke, warum er kaum etwas fühlte, während er hier am Grab seines Vaters stand. Er verließ den Friedhof und nahm das Vaporetto zurück zu den Fondamente Nuove.
Brunetti entschloß sich, an diesem Tag nicht mehr in die Questura zurückzukehren. Aber als er Vianello anrufen wollte, um sich abzumelden, fand er nirgends eine Telefonzelle: kein Wunder in einer Zeit, da alle Welt mobil telefonierte. Notgedrungen landete der Commissario schließlich in einer Bar und bestellte einen Kaffee, den er nicht wollte, nur um das Telefon benutzen zu dürfen. Nachdem er Vianello gesprochen hatte, rief er daheim an, doch es war niemand zu Hause, nur seine eigene Stimme auf Band, die seine Nummer ansagte und ihn aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen.
Geistesabwesend wanderte Brunetti durch die Stadt, fast schwindlig vor Sehnsucht nach seinem Zuhause. Dort angelangt, lehnte er sich vor Freude von innen gegen die Tür, sobald die hinter ihm ins Schloß gefallen war; auch wenn er sich dabei fühlte wie die Heldin eines Melodrams, die sich vor den Nachstellungen ihres tyrannischen Freiers sicher wähnt, obwohl der immer noch hinter der Türe lauert.
Mit geschlossenen Augen seufzte er laut: »O Gott! Fehlt nur noch, daß ich mich unterm Bett verkrieche.«
Zu seiner Linken hörte er Paola sagen: »Wenn das die ersten Anzeichen geistiger Umnachtung sind, dann weiß ich nicht, ob ich damit klarkomme.« Er drehte sich um und sah sie lächelnd in der Tür ihres Arbeitszimmers stehen, ein Buch in der Hand.
»Ich glaube kaum, daß das die ersten Anzeichen sind, die du an mir bemerkt hast«, sagte er und stieß sich von der Tür ab. »Aber wieso bist du schon zu Hause? Heute ist doch Dienstag, oder?«
»Ich habe einen Zettel an meine Bürotür gehängt und mich krank gemeldet«, erklärte sie.
Er sah sie forschend an: In ihren Augen blitzte der Schalk, ihr Teint strahlte vor Gesundheit. »Krank?« fragte er.
»Davon, in diesem muffigen Büro herumzuhocken.«
»Aber die Bücher wirst du nie leid, oder?« fragte er.
»Niemals«, bekräftigte sie. »Und du? Warum kommst du so früh?«
»Du hast's ja gehört: Ich möchte mich unterm Bett verkriechen.«
Sie trat zurück ins Zimmer und sagte über die Schulter zu ihm: »Komm rein und erzähl mir, was los ist.«
Zwanzig Minuten später hatte Brunetti ihr alles mitgeteilt, was es über den Tod von Signora Jacobs und seine Überzeugung, daß sie weder eines natürlichen Todes gestorben noch einem Unfall zum Opfer gefallen sei, zu sagen gab.
»Aber wer hätte denn Grund gehabt, alle beide umzubringen?« fragte Paola, seine Schlußfolgerung, daß ein Zusammenhang zwischen den beiden Todesfällen bestehen müsse, aufgreifend.
»Wenn ich wüßte, warum sie sterben mußten, wäre die Frage nach dem Wer leicht zu beantworten«, entgegnete Brunetti.
»Hinter dem Warum können nur die Gemälde stecken«, erklärte Paola.
Und obwohl Brunetti keinen Grund sah, ihr zu widersprechen, fragte er dennoch skeptisch: »Dann brauchen wir also bloß abzuwarten, bis sich ein Testament findet oder bis ein Notar es beim Nachlaßgericht einreicht?«
»Das erscheint mir etwas zu simpel«, entgegnete Paola. Und nach einem langen Blick auf die Bücherwand gegenüber setzte sie gedankenvoll hinzu: »Das erinnert alles sehr an Die Schätze von Poynton. «
»Erzähl schon«, drängte er, wohl wissend, daß sie es ohnehin tun würde.
»So heißt eine Novelle von Henry James. Darin geht es um den Besitz eines Hauses voll der schönsten Kostbarkeiten, und dadurch, wie die Personen mit diesen Schätzen umgehen, zeigen sie ihr wahres Gesicht.«
»Zum Beispiel?« fragte Brunetti, der wie immer vor der Lektüre des »Meisters« zurückschreckte und es vorzog, sich seine Bücher von Paola nacherzählen zu lassen.
»Also ich denke, es wäre leichter zu verstehen, wenn du's selber liest«, meinte sie.
»Ach komm, gib mir wenigstens ein Beispiel.«
»Der Sohn der Frau - also von der Frau, der all die Kostbarkeiten gehören - hat keinen Sinn für die Schönheit ihrer Sammlung, ist ihr gegenüber ebenso taub oder blind wie gegen die Gesellschafterin seiner Mutter, die die
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