Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
war.
»Dann bin ich nächstes Mal dran?«
»Versteht sich.«
Marco sah auf die Uhr. »Ich muß los, Guido. Ich erwarte eine Lieferung Muranoglas«, erklärte er mit feinem Lächeln und starker Betonung auf Murano. »Die Ware kommt aus Tschechien, und ich muß schauen, daß ich sie heil durch den Zoll kriege.«
Bevor Brunetti aufstehen konnte, war Marco fort und eilte, so wie er immer gelaufen war, im Sturmschritt einem neuen Projekt, einer neuen Aufgabe entgegen.
3
A Is Brunetti und Paola sich nach dem Abendessen wie gewöhnlich über ihren Tag austauschten, sahen sie zunächst keinen Zusammenhang zwischen Claudias und Marcos Geschichte; geschweige denn, daß sie dabei an etwas so Hochtrabendes wie das Gebot der Ehre gedacht hätten. Paola bedauerte Marco und sagte, sie habe ihn immer gemocht, worauf Brunetti verblüfft erwiderte: »Also das hätte ich nie gedacht.«
»Und wieso nicht?«
»Wahrscheinlich weil er so ganz anders ist als die Leute, die dir normalerweise gefallen.«
»Wie soll ich denn das verstehen?«
»Ach, ich dachte immer, du hältst ihn für ein Schlitzohr.«
»Er ist ein Schlitzohr, gerade das gefällt mir ja so an ihm.« Als sie sein verdutztes Gesicht sah, erklärte Paola: »Sieh mal, beruflich habe ich doch vor allem mit Studenten oder Akademikern zu tun. Die einen sind in der Regel faul, die anderen beweihräuchern sich ständig selber. Meine Studenten liegen mir mit ihrem zartbesaiteten Gemüt in den Ohren, und wenn wieder mal einer unvorbereitet in den Kurs kommt, dann weil er, statt zu arbeiten, sein wundes Seelchen pflegen mußte. Und die Kollegen kennen kein anderes Gesprächsthema als ihre neueste Monographie über Calvinos Gebrauch des Semikolons, mit der sie die gesamte moderne Literaturkritik revolutionieren werden. Dagegen ist einer wie Marco, der ganz normal über seine Geschäfte redet und übers Geldverdienen; der in all den Jahren nicht einmal versucht hat, mir mit seinem Wissen oder seinen ausgedehnten Reisen zu imponieren, und der mich auch nicht mit endlosen Leidensgeschichten langweilt - also so jemand ist im Vergleich dazu wie ein Glas Prosecco nach einem langen Nachmittag mit kaltem Kamillentee.«
»Kaltem Kamillentee?« wiederholte er verständnislos.
Sie lächelte. »Damit wollte ich den Gegensatz zum Prosecco unterstreichen. Weißt du, das ist so eine Art rhetorischer Kunstgriff, den ich meinen Kollegen abgeschaut habe.«
»Die vermutlich ganz und gar nicht wie Prosecco sind.«
Sie schloß die Augen, bog elegisch den Kopf zurück und ahmte jene köstliche Schmerzenspose nach, die man von Darstellungen der heiligen Agatha kennt. »Es gibt Tage, da bin ich versucht, dir deine Waffe zu entwenden und damit in die Uni zu marschieren.«
»Gegen wen würdest du sie richten, Studenten oder Professoren?«
»Das soll wohl ein Witz sein?« fragte sie mit gespieltem Erstaunen.
»Nein, sag schon!«
»Gegen die Kollegen natürlich. Die Studenten, mein Gott, das sind unreife Kinder, die werden schon noch erwachsen, die meisten jedenfalls, und mausern sich zu halbwegs angenehmen Zeitgenossen. Wen ich auslöschen möchte, das sind meine Kollegen, und sei's nur, um der ewigen Selbstbeweihräucherung ein Ende zu machen.«
»Alle durch die Bank?« wunderte sich Brunetti, der es gewohnt war, daß Paola sich ihre Gegner sehr gezielt auswählte.
Paola sah aus, als überlege sie, daß seine Waffe nur sechs Schuß habe und sie folglich eine Rangliste aufstellen müsse. Nach einer Weile antwortete sie, nicht ohne eine gewisse Enttäuschung in der Stimme: »Nein, nicht alle. Vielleicht fünf oder sechs.«
»Aber das wäre immer noch die Hälfte deines Fachbereichs, nicht wahr?«
»Offiziell sind wir zwölf, aber nur neun davon unterrichten.«
»Und was machen die drei übrigen?« »Nichts. Doch es nennt sich Forschung.«
»Wie ist das möglich?«
»Einer ist aggressiv und obendrein verkalkt; Professoressa Bettin hatte eine sogenannte Nervenkrise und ist mit ärztlichem Attest bis auf weiteres beurlaubt, was bis zu ihrer Pensionierung reichen dürfte; und unser stellvertretender Vorstand, Professore Della Grazia, nun, der ist ein Sonderfall.«
»Was heißt das?«
»Er ist achtundsechzig und hätte vor drei Jahren emeritiert werden sollen, doch er weigert sich zu gehen.«
»Aber er unterrichtet nicht mehr?«
»Er ist nicht tragbar im Umgang mit den Studentinnen.«
»Was?«
»Du hast schon verstanden. Man kann ihn den Studentinnen nicht zumuten. Und eigentlich«, setzte
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