Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
bei den meisten ihrer Kollegen hatte es entweder nichts gefruchtet oder ein böses Ende genommen. Und um die mütterlichen Instinkte zu befriedigen, die sie als Frau nach gängigen Umfragewerten haben sollte, genügten ihr die eigenen Kinder vollauf.
Eine Woche später saß Claudia wieder im Hörsaal. Während der Vorlesung, die Henry James und Edith Wharton am Bild ihrer Heldinnen verglich, war sie ganz wie immer: machte sich Notizen, stellte keine Fragen, schien aber irritiert über Bemerkungen ihrer Kommilitonen, die von Unwissenheit oder mangelndem Einfühlungsvermögen zeugten. Nach der Stunde wartete sie, bis die anderen den Hörsaal verlassen hatten, und kam dann zu Paola ans Pult.
»Ich wollte mich für mein Fehlen letzte Woche entschuldigen, Professoressa.«
Paola lächelte, aber bevor sie etwas sagen konnte, fragte Claudia: »Hatten Sie Zeit, mit Ihrem Mann zu sprechen?«
Es reizte Paola, zurückzufragen, ob das Mädchen vielleicht glaubte, sie hätte sich zwei Wochen lang nicht mit ihrem Mann unterhalten. Statt dessen wandte sie sich Claudia zu und sagte: »Ja, ich habe mit ihm gesprochen, aber er kann Ihnen leider keine Auskunft geben, solange er keine Vorstellung von der Schwere des Verbrechens hat, für das der Mann verurteilt wurde.«
Paola beobachtete das Mienenspiel, mit dem das Mädchen ihre Antwort aufnahm: Erstaunen, Argwohn und dann ein rasch abschätzender Blick auf Paola, wie um sich zu vergewissern, daß man sie nicht austricksen oder ihr eine Falle stellen wolle. All diese Empfindungen flackerten in Windeseile über ihr Gesicht, bevor sie sagte: »Aber im allgemeinen? Ich möchte ja nur wissen, ob er es für denkbar hält oder ob er von irgendeinem Verfahren weiß, das es... also das ermöglichen würde, den Ruf eines Menschen wiederherzustellen.«
Paola seufzte nicht, aber antwortete übertrieben langsam und geduldig: »Das kann er eben nicht sagen, Claudia. Solange er nicht weiß, um was für ein Verbrechen es sich handelt.«
Das Mädchen dachte einen Augenblick nach und überraschte Paola dann mit der Frage: »Glauben Sie, ich könnte selbst mit Ihrem Mann sprechen?«
Entweder war sie so sehr auf eine Lösung ihres Problems fixiert, daß sie es in Kauf nahm, mit ihrer Bitte Paolas Vertrauenswürdigkeit in Frage zu stellen, oder sie war zu arglos, um überhaupt so weit zu denken. Im einen wie im anderen Fall bot Paolas Antwort eine vorbildliche Lektion in Gleichmut. »Ich wüßte nicht, was dagegen spräche. Wenn Sie in der Questura anrufen und sich mit ihm verbinden lassen, wird er Ihnen sicher einen Termin geben.« »Aber wenn man mich gar nicht erst zu ihm vorläßt?«
»Dann berufen Sie sich auf mich. Sagen Sie, Sie riefen in meinem Auftrag an. Das sollte genügen, damit man Sie zu ihm durchstellt.«
»Danke, Professoressa«, sagte Claudia und wandte sich zum Gehen. Dabei stieß sie mit der Hüfte so ungeschickt gegen die Schreibtischkante, daß sie ihre Bücher fallen ließ. Paola, die sich bückte, um ihr beim Aufsammeln zu helfen, schielte als leidenschaftlicher Büchermensch unwillkürlich nach den Titeln. Sie entdeckte eine deutsche Ausgabe, aber da das Buch verkehrt herum lag, konnte sie nichts entziffern. Dafür erkannte sie Denis Mack Smiths Geschichte der italienischen Monarchie sowie seine Mussolini-Biographie, beide auf englisch.
»Können Sie Deutsch, Claudia?«
»Ja, meine Großmutter hat in meiner Kindheit Deutsch mit mir gesprochen. Sie war Deutsche.«
»Da sprechen wir aber jetzt über Ihre richtige Großmutter, oder?« fragte Paola mit einem ermunternden Lächeln.
Immer noch auf den Knien und die Bücher sortierend, warf das Mädchen ihr einen sehr mißtrauischen Blick zu, antwortete aber ganz ruhig: »Ja, die Mutter meiner Mutter.«
Da sie nicht allzu neugierig erscheinen wollte, begnügte Paola sich mit der Feststellung: »Welch ein Glück für Sie, zweisprachig aufgewachsen zu sein.«
»Das sind Sie doch auch, Professoressa, oder nicht?«
»Ich habe als Kind Englisch gelernt, ja«, versetzte Paola und beließ es dabei. Daß sie es nicht von ihrer Familie, sondern von einer ganzen Reihe englischer Kindermädchen gelernt hatte, sagte sie nicht. Je weniger die Studenten über ihr Privatleben wußten, desto besser. Sie deutete auf die Mack-Smith-Titel und fragte: »Und Sie?«
Claudia erhob sich. »Ich war in den Sommerferien öfter in England«, antwortete sie zurückhaltend.
»Sie Glückliche«, sagte Paola auf englisch und fügte lächelnd hinzu:
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