Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
sprang er auf, reckte sich starr wie ein Pfahl in der Lagune und schlug die Hacken zusammen, während die Finger gleichzeitig zum stocksteifen militärischen Gruß an die Stirn flogen.
»Wieso sind Sie nicht in Ihrer Klasse?« fragte Bembo barsch.
»Ich habe heute morgen keinen Unterricht, Comandante«, antwortete Ruffo, den Blick krampfhaft geradeaus gerichtet.
»Und was haben Sie statt dessen gemacht?«
»Mich mit diesem Herrn unterhalten«, erwiderte Ruffo und fixierte eisern die gegenüberliegende Wand.
»Und wer hat Ihnen dazu die Erlaubnis gegeben?« fragte Bembo in noch strengerem Ton.
Da trat Brunetti vor und grüßte den Comandante mit leicht geneigtem Kopf. Es klang durchaus verbindlich, als er fragte: »Braucht der Junge eine Erlaubnis, um mit der Polizei zu sprechen, Signore?«
»Er ist minderjährig«, entgegnete Bembo.
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen folgen kann, Signore.« Brunetti sagte es mit einem Lächeln, das seine Ratlosigkeit unterstreichen sollte. Ihm hätte es eingeleuchtet, wenn Bembo sich auf das militärische Reglement berufen hätte, darauf, daß die Kadetten einzig den Weisungen eines direkten Vorgesetzten folgen dürften. Aber ein Gespräch zwischen der Polizei und dem Jungen allein aufgrund seines Alters zu unterbinden, das empfand Brunetti schlichtweg als juristische Haarspalterei. »Ich begreife nicht, wieso Kadett Ruffos Alter hier eine Rolle spielt.«
»Weil im Fall eines Minderjährigen die Eltern anwesend sein sollten, wenn Sie ihn vernehmen.«
»Und warum, Signore?« fragte Brunetti, gespannt auf Bembos Begründung.
Es dauerte einen Moment, bis der Comandante eine gefunden hatte. Endlich sagte er: »Um sicherzugehen, daß er Ihre Fragen versteht.«
Bembos Zweifel an der Auffassungsgabe des Jungen sprachen schwerlich für die Qualität der Schule. Brunetti wandte sich wieder dem Kadetten zu, der sich kerzengerade hielt, die Arme hölzern herabhängen und das Kinn nur ja nicht den Kragen berühren ließ. »Sie haben meine Fragen doch verstanden, Kadett, oder?«
»Ich weiß nicht, Signore«, versetzte der Junge, den Blick starr auf die Wand geheftet.
»Wir haben über seinen Unterricht gesprochen, Comandante«, sagte Brunetti, »und Kadett Ruffo erzählte mir gerade, daß Physik zu seinen Lieblingsfächern gehört.«
»Ist das wahr, Ruffo?« erkundigte sich der Comandante, ungeniert die Glaubwürdigkeit Brunettis in Frage stellend.
»Ja, allerdings«, antwortete der Junge. »Ich habe dem Herrn erzählt, wie sehr mir meine beiden Wahlfächer gefallen.«
»Heißt das, die Pflichtfächer gefallen Ihnen nicht?« fragte Bembo streng. Und an Brunetti gewandt: »Hat er sich darüber beklagt?«
»Nein«, antwortete Brunetti ruhig. »Über die Pflichtfächer haben wir noch gar nicht gesprochen.«
Wovor hatte Bembo wohl Angst? War es denn nicht ganz normal, daß Schüler ihren Lehrplan kritisierten?
»Sie können gehen, Ruffo«, erklärte Bembo unvermittelt. Der Junge salutierte vor seinem Rektor und verließ das Zimmer, ohne Brunetti auch nur anzusehen. Die Tür blieb offen.
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich künftig informierten, bevor Sie einen meiner Kadetten vernehmen«, bemerkte Bembo feindselig.
Brunetti, der es nicht der Mühe wert fand, darüber zu streiten, erklärte sich einverstanden. Woraufhin der Comandante sich zum Gehen wandte, an der Tür kurz zögerte, als wolle er noch etwas sagen, nur um dann doch wortlos den Raum zu verlassen.
Allein geblieben, betrachtete sich der Commissario gewissermaßen als Gast in Ruffos Zimmer. Selbstverständlich hatte man die Privatsphäre seines Gastgebers zu respektieren. Brunetti, dem dieses Gebot normalerweise heilig war, durchforstete als erstes die Schreibtischschubladen. Sie enthielten zumeist Notizen, offenbar Entwürfe für Hausaufsätze, aber auch ein paar Briefe.
»Lieber Giuliano«, las Brunetti, ganz ohne Scham oder Skrupel. » Letzte Woche hat mich Deine Tante besucht, und sie erzählte mir, wie gut Du in der Schule bist.« Der Brief, der so begann, war mit »Deine Nonna« unterzeichnet. Die Schrift hatte die hübschen Rundungen, wie er sie noch von seiner Mutter gewohnt war, doch die Zeilen wanderten zittrig auf und ab, einem unsichtbaren Pfad folgend, den wohl nur die Verfasserin kannte. Brunetti blätterte noch die übrigen Papiere durch und legte, als er nichts Aufschlußreiches entdecken konnte, alles zurück an seinen Platz.
Als nächstes ging er an den Schrank neben Ruffos Schreibtisch und sah
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