Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
Stock. Hier schritt er den stillen Flur entlang und las die Türschilder. Am Ende des Korridors fand er, was er suchte: MORO/CAVANI. Ohne zu klopfen, trat er ein. Wie Ruffos Zimmer war auch dieses makellos sauber, ja fast steril: auf der einen Seite die Stockbetten und gegenüber zwei kleine Schreibtische, die penibel aufgeräumt waren. Brunetti nahm einen Bleistift aus der Brusttasche, hebelte damit die Schublade des Schreibtischs auf, der ihm am nächsten stand, und öffnete die Kladde, die zuoberst lag. Auf dem Vorsatzblatt stand Ernestos Name, und das Heft war voll mit mathematischen Formeln in einer klaren, leserlichen Schrift. Er schob die Kladde in die hinterste Ecke der Schublade und schlug die auf, die darunter lag. Allein, sie war nicht ergiebiger als die erste, auch wenn es sich diesmal um englische Sprachübungen handelte.
Brunetti schloß die Schublade wieder und wandte sich dem Schrank zwischen den beiden Schreibtischen zu. Auf einer Tür stand Moros Name. Brunetti öffnete sie von unten mit der Fußspitze. Drinnen hingen zwei Uniformen in Reinigungshüllen, eine Jeansjacke und ein brauner Tweedmantel. In den Taschen fand er nichts weiter als etwas Kleingeld und ein schmutziges Taschentuch.
Im Bücherregal standen nur Lehrbücher, und Brunetti konnte sich nicht aufraffen, jedes einzelne herunterzuholen und durchzublättern. Mit einem abschließenden Blick in die Runde verließ er den Raum, drückte mit dem Stift die Klinke hinunter und zog, ohne sie zu berühren, die Tür ins Schloß.
Auf der Treppe traf er mit Santini zusammen, den er anwies, Moros Zimmer kriminaltechnisch zu untersuchen. Dann verließ er das Schulgelände und ging hinunter zum Canale della Giudecca, wo er sich nach rechts wandte und, die Riva entlangschlendernd, auf ein vaporetto hoffte. Im Gehen schweifte sein Blick über die Gebäude am anderen Ufer des Kanals: Nicos Bar und darüber die Wohnung, in der er sich, bevor er Paola kennenlernte, sehr oft aufgehalten hatte; die Kirche Dei Gesuati, der einst ein grundanständiger Priester vorgestanden hatte; das ehemalige und nicht mehr beflaggte Schweizer Konsulat. Lassen selbst die Schweizer uns im Stich?, fragte er sich. Weiter vorn lag der Ruderclub Bucintoro, dessen lange, schlanke Lagunenboote freilich längst vom Geruch der Guggenheim-Millionen vertrieben worden waren und der seinen Anleger hatte räumen müssen, um noch mehr Touristenläden Platz zu machen. Als Brunetti sah, wie am Redentore ein traghetto ablegte, lief er vor zum embarcadero Palanca, um von dort überzusetzen zur Fondamenta Zattere. Seine Uhr bezeugte, daß die Fahrt von der Giudecca tatsächlich keine fünf Minuten dauerte. Trotzdem erschien ihm die Insel immer noch so fern wie der Galapagos-Archipel.
Er brauchte nur ein paar Minuten, um sich bis zu dem weiträumigen campo durchzuschlängeln, der die monumentale Chiesa Santa Maria della Salute umgab, und dort fand er auch das gesuchte Haus. Wieder unterdrückte er den Impuls, die Sache hinauszuzögern, drückte entschlossen auf die Klingel und meldete sich über die Sprechanlage mit Namen und Dienstgrad.
»Sie wünschen?« fragte eine Frauenstimme.
»Ich möchte Dottor Moro sprechen«, erwiderte Brunetti und gab damit zumindest sein dringlichstes Anliegen preis.
»Er kann im Moment niemanden empfangen«, beschied ihn die Frau kurz angebunden.
»Aber ich habe bereits mit ihm gesprochen«, wandte Brunetti ein. »In der Schule«, fügte er hinzu, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Und als auch das die Frau nicht zu beeindrucken schien, setzte er hinzu: »Ich muß ihn sprechen, es ist wirklich sehr dringend.«
Die Frau grummelte etwas Unverständliches, das obendrein vom Schnarren des elektrischen Türöffners übertönt wurde. Er stieß das Tor auf, durchquerte raschen Schritts die Diele und blieb am Fuß der Treppe stehen. Im Obergeschoß öffnete sich eine Tür, und eine hochgewachsene Frau erschien auf dem Treppenabsatz. »Hier herauf«, sagte sie.
Als er oben angekommen war, drehte sie sich auf dem Absatz um, ging wortlos in die Wohnung voran, und erst als sie die Tür geschlossen hatte, wandte sie sich ihm wieder zu. Obwohl sie bestimmt jünger war als er, hatte sie schlohweißes Haar, das ihr knapp bis auf die Schultern reichte. Ihr Teint dagegen war dunkel wie der einer Araberin, und so tiefschwarze Augen wie die ihren hatte Brunetti wohl noch nie gesehen.
Sie streckte die Hand aus. »Ich bin Luisa, Fernandos Cousine.«
Brunetti ergriff
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