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Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle

Titel: Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Ihr Eindruck?«
    »Es könnte Selbstmord gewesen sein«, antwortete Santini. Er wies auf ein paar Schrammen, die sich von dem grauen Graphitpulver auf den Kacheln der Duschkabine abhoben. »Hier haben wir in Schulterhöhe zwei lange Striemen ausgemacht. Die könnten von ihm stammen.«
    »Aber paßt das zur Selbstmordtheorie?«
    »Doch, schon. Das ist der Instinkt: Und wenn einer sich noch so verzweifelt den Tod wünscht - der Körper wird sich bis zum Schluß dagegen wehren.«
    Pedone, der ihr Gespräch mit angehört hatte, fügte hinzu: »Die Kabine ist sauber, Signore. Da hat kein Kampf stattgefunden, falls Sie darauf hinauswollten.«
    Da sein Partner offenbar nichts weiter zu sagen hatte, ergriff Santini wieder das Wort: »So geht das, Signore, wenn einer sich erhängt. Glauben Sie mir. Falls eine Wand in der Nähe ist, versucht er, sich daran festzukrallen; er kann gar nicht anders.«
    »Erhängen kommt vor allem bei Männern vor, nicht wahr?« fragte Brunetti und vermied es, auf Moros Leichnam hinabzusehen.
    »Häufiger als bei Frauen, ja«, stimmte Santini zu. Und mit einem zornigen Unterton in der Stimme fuhr er fort:
    »Wie alt war der Junge - siebzehn, achtzehn? Wie konnte er so was tun?«
    »Das weiß Gott allein.« Brunetti seufzte.
    »Der hat damit nichts zu schaffen«, versetzte Santini hitzig, wobei unklar blieb, ob er die Barmherzigkeit Gottes in Frage stellte oder gleich dessen Existenz. Dann ging er hinaus auf den Flur, wo zwei weißbekittelte Sanitäter mit einer zusammengeklappten Trage warteten. »Sie können ihn jetzt mitnehmen«, sagte er, blieb aber draußen, während die beiden den Leichnam auf die Bahre hoben und wegtrugen. Als sie an ihm vorbeikamen, hob Santini gebieterisch die Hand. Die Sanitäter blieben stehen, und Santini bückte sich, um einen Zipfel des dunkelblauen Paletots, der hinter der Bahre herschleifte, hochzuheben. Erst als er das Tuch unter dem Bein des Jungen eingeschlagen hatte, bedeutete er den Sanitätern, nun könnten sie den Leichnam aufs Boot bringen.

5
    B runetti unterdrückte den Wunsch, zu kneifen und mit den anderen auf dem Polizeiboot in die Klinik und von dort zurück zur Questura zu fahren. Vielleicht war es das jähe Erschrecken beim Anblick des jungen Leichnams oder vielleicht auch seine Bewunderung für des älteren Moros kompromißlose Ehrlichkeit - jedenfalls drängte ihn irgend etwas, sich ein detaillierteres Bild vom Tathergang zu verschaffen. Männliche Jugendliche waren offenbar generell suizidgefährdeter als Mädchen. Des weiteren hatte Brunetti irgendwo gelesen, daß die Selbstmordrate in Zeiten wirtschaftlichen Wohlstands mit fast mathematischer Präzision anstieg, in schlechten dagegen sank. Und in Kriegszeiten tendierte sie praktisch gegen Null. Vermutlich war sein eigener Sohn ebenso anfällig für die Launen der Pubertät wie jeder andere Junge: ein Spielball seiner Hormone, seiner Beliebtheit oder seiner schulischen Erfolge. Daß Raffi in einem seelischen Tief jemals bis zum Selbstmord getrieben würde, war gleichwohl unvorstellbar, aber das glaubten wohl alle Eltern von ihren Kindern.
    Solange es keine Indizien gab, die gegen Selbstmord sprachen, hatte Brunetti auch keine Handhabe, nach einer anderen Todesursache zu forschen: nicht bei Ernestos Mitschülern, und bei seinen Eltern schon gar nicht. Es dennoch zu tun würde nicht nur von makabrer Neugier zeugen, sondern wäre regelrechter Amtsmißbrauch. Trotzdem trat der Commissario entschlossen auf den Hof hinaus und rief über das telefonino, das er zum Glück eingesteckt hatte, Signorina Elettra in der Questura an.
    Als sie sich meldete, erklärte er ihr, wo er sich befand, und bat sie, im Telefonbuch Moros Adresse nachzuschlagen, die seiner Meinung nach in Dorsoduro sein mußte, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, wieso er den Dottore mit diesem Viertel in Verbindung brachte.
    Signorina Elettra stellte keine Fragen, bat ihn nur, einen Moment zu warten, und sagte schließlich bedauernd, im Telefonbuch gebe es keinen Eintrag, Moro habe offenbar eine Geheimnummer. Er möge sich noch einen Augenblick gedulden. Wieder verstrichen ein, zwei Minuten, dann nannte sie ihm eine Adresse in Dorsoduro. Unmittelbar an dem Kanal, der an der Kirche der Madonna della Salute entlangführe. »Es muß das Haus neben dem niedrigen Backsteinbau mit der üppigen Blumenterrasse sein«, meinte sie noch.
    Brunetti dankte ihr, ging ins Schulgebäude zurück und stieg wieder hinauf zu den Schlafräumen im dritten

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