Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
überlebt. Blieb also nur noch der Vater. Was ihn freilich auch nicht weiterbrachte, denn solange er nicht wußte warum oder für wen Moro zur Zielscheibe geworden war, blieben alle Spekulationen so wertlos wie die dürftigen Informationen, auf die er sie stützte.
Signorina Elettras Erscheinen setzte seinen fruchtlosen Grübeleien ein Ende. »Haben Sie schon gelesen?« fragte sie und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Obduktionsbericht.
»Ja. Was halten Sie davon?«
»Ich verstehe nicht, warum ein Junge wie der sich umbringen wollte. Es ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»So ungewöhnlich ist das leider nicht, daß junge Menschen sich das Leben nehmen.«
Eine Bemerkung, die ihr sichtlich weh tat. »Aber warum?« fragte sie, mit einem Ordner in der Hand vor seinen Schreibtisch tretend.
»Einer der Kadetten drüben auf der Giudecca, den ich das auch gefragt habe, hat mir geantwortet, ihn belaste der Gedanke an eine ungewisse Zukunft und die Angst, daß seine Generation vielleicht gar keine mehr hätte.«
»Das ist doch Unsinn!« rief sie ärgerlich. »Es gibt immer eine Zukunft.«
»Ich wiederhole ja nur, was der Junge gesagt hat.«
»Ein Kadett?« fragte sie.
»Ja.«
Nach langem Schweigen bekannte sie zögernd: »Ich bin eine Weile mit einem gegangen.«
Sofort war Brunettis Neugier geweckt. »Wann? In Ihrer Schulzeit?« fragte er.
Ihre Lippen kräuselten sich zu einem verschmitzten Lächeln. »Bestimmt nicht letzte Woche«, versetzte sie trocken. »Ja, ich war achtzehn damals.« Doch nach einem grüblerischen Blick zu Boden korrigierte sie: »Nein, ich war sogar erst sechzehn. Das ist die Erklärung.«
Brunetti erkannte sein Stichwort. »Erklärung wofür?«
»Dafür, daß ich es so lange ausgehalten habe mit ihm.«
Brunetti erhob sich halb aus seinem Sessel und wies auf den Stuhl gegenüber. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.« Signorina Elettra strich den Rock hinten glatt, bevor sie sich hinsetzte, und nahm dann den Ordner flach auf den Schoß.
»Was mußten Sie denn aushalten?« fragte Brunetti verwundert, weil er sich eine Signorina Elettra, die sich gegen ihren Willen etwas aufzwingen ließ, kaum vorstellen konnte.
»Beinahe hätte ich jetzt gesagt: daß er Faschist war, wie der ganze Verein damals und wahrscheinlich auch heute noch, aber das wäre vielleicht doch übertrieben. Also sage ich nur, daß er ein eingebildetes Großmaul mit rechtsextremen Ansichten war, wie die meisten seiner Freunde.« Brunetti kannte sie lange genug, um zu wissen, wann sie, bildlich gesprochen, nur solfeggierte und wann sie zu einer Arie anhob; diesmal tippte er auf letzteres.
»Aber das haben Sie damals nicht erkannt?« fragte er und bot ihr mit diesem Kürzestrezitativ den Einstieg für ihre Arie.
»Na ja, wenn wir sie damals in ihren schmucken Uniformen durch die Stadt flanieren sahen, meine Freundinnen und ich, dann hielten wir sie für die aufregendsten und tollsten Jungs von der Welt. Wenn einer von ihnen uns ansprach, war es, als habe der Himmel sich aufgetan und ein Gott sei zu uns herabgestiegen. Und dann war da einer ...«
Sie stockte, suchte nach den richtigen Worten, gab endlich auf und sagte nur: »Renzo hieß er, und wir gingen miteinander.«
»Gingen miteinander?« half er nach.
»Ins Café oder spazieren, runter in die Giardini, wo wir uns auf eine Bank setzten und redeten. Das heißt«, verbesserte sie sich mit einem reumütigen Lächeln, »ich durfte eigentlich nur zuhören. Man könnte dafür fast ein neues Wort einführen: Hörhaltung statt Unterhaltung. Das ist alles, was ich bekam, wenn wir zusammen waren, eine Hörhaltung.«
»Vielleicht haben Sie ihn auf diese Weise schneller kennengelernt«, versetzte Brunetti trocken.
»Ja«, entgegnete sie schroff. »Und wie ich ihn kennengelernt habe!«
Er wußte nicht recht, welche Frage nun angebracht wäre. »Und wie kommt es, daß Sie jetzt so bitter über ihn urteilen?«
»Ihn als eingebildetes Großmaul mit rechtsextremen Ansichten hinstelle?«
»Ja.«
»Sie erinnern sich doch noch an Barbara?« fragte sie und meinte ihre ältere Schwester.
»Ja.«
»Sie studierte damals in Padua, und wir sahen uns höchstens am Wochenende. Renzo und ich, wir gingen ungefähr drei Wochen miteinander, als Barbara wieder einmal nach Hause kam, und ich wollte unbedingt, daß sie ihn kennenlernte. Ich fand ihn so wunderbar, so gescheit, so weltläufig.« Sie quittierte ihre jugendliche Verblendung mit einem bitteren Lachen. »Denken Sie nur, weltläufig.
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