Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
Accessoire und kein Grundbedürfnis des täglichen Lebens. Er brauchte nur zu hören, wie eine von Paolas Freundinnen sich über ihre empfindliche Verdauung ausließ und beteuerte, daß sie keinesfalls Gemüse kaufen würde, das neben Knoblauch gelegen hatte, und schon fiel ihm jene Geschichte ein. Ja, er erinnerte sich, wie er einmal an einer Tafel einem Mann gegenübergesessen hatte, der den anderen Gästen versicherte, es sei ihm unmöglich, Fleisch zu essen, das nicht von seinem Metzger stammte; er schmecke den Unterschied sofort heraus. Als der Mann geendet hatte und sein feiner Gaumen gebührend bewundert worden war, da hatte Brunetti die Geschichte von dem Hund zum besten gegeben.
In einer Bar am Campo San Fantin genehmigte er sich zwei tramezzini und ein Glas Weißwein. Während er an der Theke stand, kam eine attraktive dunkelhaarige Frau herein und bestellte einen Kaffee. Sie trug einen enganliegenden Mantel mit Leopardenmuster und einen ausgefallenen Hut, der aussah wie eine schwarze Pizza, die auf einer Kippa schwebte. Brunetti beobachtete sie, während sie an ihrem Kaffee nippte; und nicht nur er, jeder Mann in der Bar hatte bloß noch Augen für sie. Vermutlich waren sie allesamt dankbar dafür, daß dieses reizende Geschöpf hereingeschneit kam, um ihre Herzen zu erheben und ihnen den Tag zu verschönen.
Beschwingt verließ Brunetti die Bar und kehrte in die Questura zurück. Als er sein Büro betrat, lag auf dem Schreibtisch ein neuer Schnellhefter, und als er ihn aufschlug, fand er darin zu seinem Erstaunen den noch gar nicht erwarteten Obduktionsbericht über Ernesto Moro. Was Venturi wohl im Schilde führte, an was für Intrigen oder Machtspielen beteiligte er sich und gegen wen? Dafür, daß er sich mit der Obduktion so beeilt hatte, konnte es nur eine Erklärung geben: Er warb um Brunettis Gunst, und auf die war er nur dann angewiesen, wenn er einen Angriff auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Rivalen plante, sei es bei der Polizei, sei es in der Rechtsmedizin. Doch für den Augenblick verschob Brunetti alle weiteren Spekulationen über Venturis Motive und vertiefte sich erst einmal in den Bericht.
Ernesto Moro war zum Zeitpunkt seines Todes kerngesund gewesen: keinerlei Krankheiten, nicht mal einen defekten Zahn; allerdings war in der Kindheit eine kieferorthopädische Korrektur vorgenommen worden. Am linken Bein fanden sich Spuren einer vielleicht zehn Jahre alten, vollständig verheilten Fraktur; Mandeln und Blinddarm waren noch vorhanden.
Todesursache: Erdrosseln. Wie tief der Körper gefallen war, ehe sich die Schlinge straffte, ließ sich nicht mehr rekonstruieren, aber der Druck hatte nicht ausgereicht, dem Jungen das Genick zu brechen, sondern er war erstickt. Wie Venturi eigens anmerkte, kein schneller Tod: Der Hals war vorn und an der rechten Seite wund gescheuert, Verletzungen, die von dem Strick herrührten und den Schluß zuließen, daß der Junge in den letzten Minuten verzweifelt um sein Leben gekämpft hatte. Ferner waren noch die genauen Ausmaße der Duschkabine angeführt, in der die Leiche geborgen wurde, sowie die maximale Armspanne des Jungen. Brunetti dachte an die wild rotierenden Kratzspuren an den Kachelwänden.
Die Analyse des Mageninhalts ergab, daß der Tod aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens eingetreten war. Der Drogentest war negativ ausgefallen, und zu seiner letzten Mahlzeit hatte der Junge offenbar nur mäßig Wein getrunken, kaum mehr als ein Glas und keinesfalls so viel, daß seine Urteilsfähigkeit davon in irgendeiner Weise beeinträchtigt war.
Brunetti schob die Blätter in den Ordner zurück und ließ ihn aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegen. Der Bericht enthüllte alles und nichts. In einem ersten Schritt versuchte der Commissario, das Wissen um Signora Moros angeblichen Jagdunfall auszuklammern und den Tod ihres Sohnes davon losgelöst zu sehen. In dem Fall kam als Motiv entweder eine schwere Enttäuschung in Betracht, die der Junge nicht verwunden hatte, oder der verzweifelte Racheakt eines Gedemütigten an seinem Peiniger. Aber sobald man die Mutter wieder in die Gleichung aufnahm, vermehrten sich die Motive schlagartig. Der Junge rückte aus dem Zentrum des Geschehens, war nicht länger die treibende Kraft, sondern wurde zur Figur in einem von anderen gelenkten Spiel.
Wer immer in diesem Spiel geopfert werden sollte, überlegte Brunetti weiter: Die Mutter konnte es nicht sein, denn sie hatte
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