Brunetti 14 - Blutige Steine
sich.
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A uf dem Weg nach oben in sein Büro merkte Brunetti plötzlich, daß er selbst es war, der das leise Summen in seinen Ohren erzeugte. Er zwang sich, damit aufzuhören, in der Hoffnung, daß dann der schmerzhafte Druck, den er in Kopf und Brust verspürte, nachlassen würde. Es schien zu helfen; jedenfalls hatte sich, als er in seinem Zimmer angelangt war, seine Wut so weit gelegt, daß er wieder klar denken konnte.
Das Spiel war leicht zu durchschauen: Man rückt mit geballter Feuerkraft an, schießt die Männer über den Haufen und wartet anschließend mit einer glaubwürdigen Erklärung auf. Und was läge zur Zeit mehr im Trend als Terrorismus? Es war durchaus möglich, daß die hinzugezogenen Carabinieri keine Ahnung hatten, was wirklich los war, sondern daß man sie eingesetzt hatte wie Statisten in der Aida, die ein-, zweimal in Regimentsstärke über die Bühne dirigiert werden, um eine Aufführung, die sich sonst vielleicht als schäbiges, schlecht geprobtes Spektakel entlarvt hätte, echt aussehen zu lassen.
Brunetti rief sich die Szene aus dem Fernsehen in Erinnerung: Die blauen Limousinen trugen keine Kennzeichen, ebensowenig wie die Kampfanzüge des maskierten Einsatzkommandos. Mit Hilfe gewisser Leute, bei denen er noch etwas guthatte, könnte er vermutlich das Einsatzprotokoll der Carabinieri einsehen, doch ob darin die Identität der Maskierten preisgegeben wurde, schien fraglich; und welche Einheit als erste die Wohnung betreten hatte, würde wahrscheinlich auch nicht drinstehen.
Er versuchte sich die Ansicht des Zimmers zu vergegenwärtigen, in dem die beiden Leichen fotografiert worden waren, denn ihm war plötzlich eingefallen, daß man sie ohne weiteres anderswo exekutiert haben könnte. Die abgedeckten Silhouetten auf den Bahren waren nur Silhouetten, und Blut konnte man auf jedem beliebigen Fußboden verspritzen. Hier gebot sich Brunetti Einhalt, weil er merkte, daß er kurz davor war, ins Reich der Paranoia abzudriften: Es wäre schließlich viel einfacher gewesen, die beiden Männer aufzuspüren und ihnen zu ihrem Versteck zu folgen. Das hätte auch weit weniger Aufwand erfordert. Und was sich in der Wohnung zugetragen hatte, brauchte außer dem Sturmtrupp niemand zu erfahren.
Aus dem zerbeulten Schrank an der Wand gegenüber vom Schreibtisch holte Brunetti die Blechschachtel, in der er seinen Dienstrevolver aufbewahrte. Er trug sie zum Tisch, schloß sie auf und entnahm ihr den in ein Tuch eingeschlagenen holzgeschnitzten Kopf.
Er wickelte ihn aus und wollte ihn auf den Schreibtisch setzen, aber die unebenen Bruchstellen am Hals ließen ihn immer wieder umfallen und zur Seite kippen. Schließlich nahm Brunetti ihn in die Hand und studierte das Gesicht. Obwohl nicht die Spur eines Lächelns vorhanden war, vermittelte das Antlitz ein Gefühl von Frieden und Wohlbehagen. Die glatte Politur reflektierte das Licht. Brunetti legte einen Finger auf das Zeichen, das in die Stirn eingraviert war, und fuhr der Zickzacklinie nach, die ohne Unterbrechung wieder am Ausgangspunkt anlangte.
»Chokwe«, sagte er laut vor sich hin und versuchte das Wort so auszusprechen, wie er es von Professoressa Winter gehört hatte.
Nach einer Weile schlug er den Kopf wieder in das Tuch ein, legte ihn in die Schachtel zurück und verstaute diese auf dem obersten Bord im Schrank. Dann ging er nach Hause.
Zwei Tage verstrichen, ohne daß Brunetti über den Fall gesprochen oder sich bewußt damit auseinandergesetzt hätte. Auf seine Kollegen wirkte er abwesend, doch sie achteten nicht weiter darauf.
Am Morgen des dritten Tages, einem Samstag, weckte ihn ein Anruf seines Schwiegervaters.
»Guido, hast du schon die Zeitungen geholt?«
»Nein«, murmelte Brunetti benommen.
»Dann tu das. Besorg dir Il Sole 24 Ore und lies den kurzen Artikel unten auf Seite elf. Der dürfte dir einige Fragen beantworten.« Bevor Brunetti um eine Erklärung bitten konnte, hatte der Conte aufgelegt.
Paola lag unter ihrer Decke und rührte sich nicht. Brunetti stand auf und folgte der Weisung seines Schwiegervaters, aber auf dem Rückweg vom Zeitungsstand kaufte er eine Tüte Gebäck und nahm sie mit nach Hause. Er legte sie auf die Anrichte in der Küche, und statt den Artikel zu lesen, den der Conte ihm so dringend empfohlen hatte, kochte er paradoxerweise erst einmal Kaffee. Als der fertig war, setzte er sich mit der Zeitung an den Tisch, betrachtete die schwarzen Schlagzeilen auf orangefarbenem Grund und schlug die Seite
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