Brunetti 18 - Schöner Schein
Zwecken dienen. Brunetti sah einen Mann vor Pattas Schreibtisch sitzen; als dieser ihn eintreten hörte, erhob er sich langsam.
»Ah, Brunetti«, begrüßte Patta ihn überschwenglich, »das ist Maggior Guarino. Er kommt von den Carabinieri in Marghera.« Der Mann war groß, etwa zehn Jahre jünger als Brunetti und sehr dünn. Sein ungezwungenes Lächeln wirkte abgetragen, das dichte Haar an seinen Schläfen war schon grau. Er hatte dunkle, tiefliegende Augen, wie jemand, der seine Umgebung gern aus sicherer Entfernung beobachtet.
Sie gaben sich die Hand und tauschten Höflichkeiten aus, dann machte Guarino Brunetti Platz, der sich auf dem zweiten Stuhl vor Pattas Schreibtisch niederließ.
»Ich wollte, dass Sie den Maggiore kennenlernen, Brunetti«, fing Patta an. »Er ist hier, um zu sehen, ob wir ihm behilflich sein können.« Bevor Brunetti etwas fragen konnte, sprach Patta weiter: »Seit einiger Zeit mehren sich die Hinweise auf die Existenz gewisser illegaler Organisationen, insbesondere im Nordosten.« Er sah Brunetti an, der es nicht nötig fand, um Erläuterung zu bitten. Jeder Zeitungsleser - jeder, der sich in irgendeiner Bar mit den Leuten unterhielt - wusste Bescheid. Patta zuliebe zog Brunetti in der Hoffnung, einen interessierten Eindruck zu machen, die Augenbrauen hoch, worauf Patta erklärte: »Schlimmer noch - und das ist der Grund für den Besuch des Maggiore -, es mehren sich die Hinweise, dass nun auch seriöse Unternehmen, insbesondere im Transportwesen, von Kriminellen übernommen werden.« Wie ging noch mal die Geschichte dieses amerikanischen Schriftstellers von dem Mann, der einschlief und erst nach Jahrzehnten wieder aufwachte?
Ob Patta, während die Camorra in den Norden vorrückte, in einer Höhle im Tiefschlaf lag und erst heute früh beim Aufwachen davon erfahren hatte?
Brunetti ließ Patta nicht aus den Augen und überhörte geflissentlich das Räuspern des Mannes neben sich.
»Maggior Guarino ist seit geraumer Zeit mit diesem Problem befasst, und seine Ermittlungen haben ihn nun ins Veneto geführt. Wie Ihnen klar sein dürfte, Brunetti, betrifft uns das jetzt alle«, erklärte Patta, und dem Beben seiner Stimme war zu entnehmen, wie sehr ihn die Neuigkeit schockierte. Während Patta weitersprach, versuchte Brunetti zu ergründen, warum man ihn zu diesem Gespräch hinzugebeten hatte. Mit dem Transportwesen, soweit es sich auf Straßen oder Schienen abspielte, hatte die Polizei in Venedig wenig zu schaffen. Er selbst hatte keine Erfahrung mit dem Güterverkehr zu Lande, ob kriminell oder nicht, und glaubte kaum, dass es sich mit seinen Leuten anders verhielt.
»...und daher wollte ich Sie beide miteinander bekannt machen, in der Hoffnung, daraus entstehe ein gewisser Synergieeffekt«, schloss Patta mit einem Fremdwort und erwies sich damit einmal mehr als selbstgefälliger Simpel.
Guarino setzte zu einer Antwort an, doch als er Patta nicht sehr unauffällig auf seine Uhr blicken sah, ließ er es sein und sagte lediglich: »Sie waren bereits allzu großzügig mit Ihrer Zeit, Vice-Questore: Ich kann unmöglich von Ihnen verlangen, uns noch mehr davon zu gewähren.« Dies wurde von einem breiten Lächeln begleitet, das Patta leutselig erwiderte. »Vielleicht sollten der Commissario und ich«, sagte Guarino mit einem Nicken in Brunettis Richtung, »die Angelegenheit besprechen und anschließend Sie um weiteren Input bitten.« Als Guarino das englische Wort verwendete, hörte es sich an, als wüsste er, was es bedeutete.
Brunetti staunte über die Gewandtheit, mit der Guarino exakt den richtigen Ton getroffen hatte, in dem man mit Patta reden musste, und über die Raffinesse seines Vorschlags. Patta sollte nach seiner Meinung gefragt werden, aber erst, wenn andere die Arbeit getan hatten. Auf die Weise blieb er außen vor, was Mühe und Verantwortung betraf, und konnte dennoch die Lorbeeren ernten, falls irgendwelche Fortschritte erzielt wurden. Und genau das war für Patta die beste aller möglichen Welten.
»Ja, in der Tat«, sagte Patta, als hätten die Worte des Maggiore ihm plötzlich die Last seines Amtes bewusst gemacht. Guarino stand auf, Brunetti ebenfalls. Während der Maggiore noch ein paar höfliche Bemerkungen machte, ging Brunetti schon einmal voraus, dann verließen sie gemeinsam das Büro.
Signorina Elettra sah ihnen entgegen. »Ich hoffe, Ihre Besprechung war ein Erfolg, Signori«, sagte sie freundlich.
»In so anregender Gesellschaft, wie sie der Vice-Questore
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