Brunetti 18 - Schöner Schein
sichtlich erleichtert. »Gut. Das können sie haben. Es ist mir unbegreiflich, wie einem Beamten der Carabinieri so etwas zustoßen konnte. Er hat doch einen recht vernünftigen Eindruck gemacht. Wie konnte er sich einfach so umbringen lassen?«
Die Furien konnten Orest nicht ärger bedrängt haben als die sarkastischen Antworten, die Brunettis Zunge bestürmten, doch er vertrieb sie alle und sagte nur: »Wir wissen nicht, wie es passiert ist, Signore. Vielleicht waren es mehrere Angreifer.«
»Aber trotzdem...«, sagte Patta, verstummte dann aber, bevor ihm weitere Kritik an Guarinos Leichtsinn über die Lippen kam.
»Wenn Sie meinen, es sei das Beste für uns, Signore...«, fing Brunetti mit schwankender Stimme an, »... aber vielleicht.. . nein, sollen sie den Fall ruhig übernehmen.«
Patta war plötzlich hellwach. »Erklären Sie sich deutlicher, Brunetti!«
»Als ich mit Guarino gesprochen habe, Signore«, fing Brunetti zögernd an, »hat er mir gesagt, er habe für den Mord in Tessera einen Verdächtigen ermittelt.« Bevor Patta fragen konnte, fuhr er fort: »Der Mord an dem Spediteur. Vor Weihnachten.« »Ich bin kein Idiot, Brunetti. Ich lese die Unterlagen, das wissen Sie.«
»Selbstverständlich, Signore.«
»Also, was hat er gesagt? Dieser Carabiniere?«
»Er hat mir gesagt, er habe seinen Kollegen den Namen des Verdächtigen verschwiegen.«
»Ausgeschlossen«, sagte Patta. »Natürlich hat er ihnen den Namen genannt.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er ihnen hundertprozentig vertraut hat.« Auch wenn Guarino das nicht gesagt hatte, kam es der Wahrheit vermutlich sehr nahe.
Brunetti beobachtete, wie Patta sich entschied, den Überraschten zu spielen, ließ ihn aber nicht zu Wort kommen. »Das hat er mir selbst gesagt«, log Brunetti.
»Hat er etwa Ihnen den Namen genannt?«, fragte Patta scharf.
»Ja«, antwortete Brunetti ohne weitere Erklärung. »Warum?« Patta schrie beinahe.
Brunetti wusste, Patta würde ihn nicht verstehen, wenn er erklärte, Guarino habe ihm vertraut, weil er in ihm einen Menschen erkannt habe, der so ehrlich war wie er selbst. Also ließ er das. »Er hatte den Verdacht, dass seine Ermittlungen behindert wurden; er sagte, das wäre nicht das erste Mal. Vielleicht glaubte er, bei uns würden die Ermittlungen sorgfältiger durchgeführt. Und wir könnten den Mörder finden.« Brunetti war versucht, noch mehr Andeutungen zu machen, hielt sich aber zurück und überließ es Patta, die Vorteile abzuwägen. Als der nicht reagierte, ging Brunetti aufs Ganze: »Dann bleibt mir wohl keine Wahl, ich muss den Carabinieri den Namen nennen, oder, Signore?«
Patta starrte seinen Schreibtisch an, als suche er dort nach einer Antwort. »Glauben Sie ihm, was er über den Verdächtigen gesagt hat?«, fragte er schließlich.
»Ja, ich glaube ihm.« Von dem Foto und dem Ausflug ins Casinò brauchte Patta nichts zu wissen: Mit Einzelheiten wollte er sich ohnehin nicht herumschlagen.
»Meinen Sie, wir können die Ermittlungen fortsetzen, ohne dass sie etwas mitbekommen?« Patta hatte tatsächlich »wir« gesagt, und damit stand für Brunetti fest, dass sein Vorgesetzter bereits entschieden hatte, den Fall an sich zu reißen. Jetzt musste Brunetti nur noch dafür sorgen, dass er allein damit betraut wurde.
»Guarino meinte, unsere guten Ortskenntnisse könnten von Vorteil sein, Signore.« Brunetti sprach, als ob weder Patta noch Scarpa Sizilianer wären.
»Ich wünschte, ich könnte das machen«, sagte Patta versonnen.
»Was, Signore?« »Den Carabinieri diesen Fall wegschnappen. Erst nimmt uns Mestre die eine Mordermittlung weg, und jetzt wollen die Carabinieri auch noch diese hier an sich reißen.« Aus dem abwägenden Vorgesetzten war ein Mann der Tat geworden, die Erleichterung, den Fall loszuwerden, war vergessen. »Das wird ihnen nicht gelingen, solange ich in dieser Stadt der Vice-Questore bin.«
Zum Glück unterließ es Patta, mit der Faust auf den Schreibtisch zu schlagen: Das wäre dann doch zu weit gegangen. Was für ein Jammer, dass Patta nicht im historischen Archiv eines stalinistischen Staates arbeiten konnte: Wie hätte er es geliebt, Fotos zu retuschieren, Altes zu überpinseln und durch Neues zu ersetzen. Geschichtsbücher zu schreiben und dann umzuschreiben: Der Mann hatte eine echte Begabung.
»... und Vianello, nehme ich an«, räumte Patta ein und riss Brunetti aus seinen Träumereien.
»Selbstverständlich, Signore. Wenn Sie das für das Beste halten«, sagte
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