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Brunetti 18 - Schöner Schein

Brunetti 18 - Schöner Schein

Titel: Brunetti 18 - Schöner Schein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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und las ihr die Stelle vor: »›Die Philosophen erklären sehr zutreffend, dass bereits ein bloßer Gesichtsausdruck ein Verstoß gegen die Kindespflicht sein kann.‹«
    »Was meinst du, sollen wir das rauskopieren und an den Kühlschrank kleben?«, fragte sie.
    »Moment«, sagte Brunetti und schlug das Buch weiter vorne auf. »Ich habe hier noch was Besseres.«
    »Für den Kühlschrank?«
    »Nein.« Er suchte nach der Stelle. »Das sollte man an alle öffentlichen Gebäude schreiben, im ganzen Land, am besten in Stein gemeißelt.«
    Paola machte eine Handbewegung, als wolle sie ihn zur Eile treiben.
    Er blätterte noch ein wenig vor und zurück, dann hatte er es gefunden. Er hielt das Buch auf Armeslänge vor sich. Dann sah er sie an und erklärte: »Cicero sagt, das seien die Pflichten eines guten Konsuls, aber ich finde, es gilt für alle Politiker.« Sie nickte, und Brunetti deklamierte wie ein Schauspieler: »›Er muss das Leben und die Interessen der Leute schützen, an den Patriotismus seiner Mitbürger appellieren und stets das Wohl der Allgemeinheit über das eigene stellen.‹«
    Paola ließ sich das Gehörte durch den Kopf gehen. Dann klappte sie ihr Buch zu und warf es auf den Tisch. »Und ich dachte, mein Buch sei frei erfunden.«

19
    A m Morgen lag Schnee. Noch bevor er die Augen richtig offen hatte, merkte Brunetti an dem besonderen Licht, dass etwas geschehen war. Als er verschlafen nach den Fenstern sah, erblickte er das Weiß auf dem Geländer der Terrasse und dahinter weiße Dächer und einen Himmel, der so blau war, dass es ihm in den Augen weh tat. Nicht die Spur einer Wolke war zu sehen, als seien sie alle in der Nacht gebügelt und über der Stadt ausgebreitet worden. Er blieb liegen und versuchte sich zu erinnern, wann es das letzte Mal so geschneit hatte und der Schnee nicht sofort wieder vom Regen weggespült worden war.
    Er musste wissen, wie tief der Schnee war. In seiner Begeisterung drehte er sich nach Paola um, aber der Anblick ihrer reglosen schlanken Gestalt unter der weißen Decke ließ ihn innehalten, und er gab sich damit zufrieden, allein aus dem Bett zu klettern und sich ans Fenster zu stellen. Der Glockenturm von San Polo war bedeckt, ebenso dahinter der Turm der Frari-Kirche. Er ging den Flur hinunter zu Paolas Arbeitszimmer: Von dort war der Glockenturm von San Marco zu sehen, der goldene Engel auf der Spitze gleißte im Licht. Aus der Ferne drang Glockenläuten zu ihm, das aber vom alles verhüllenden Schnee so verwandelt wurde, dass er nicht sagen konnte, von welcher Kirche es kam; nicht einmal die Richtung hätte er angeben können.
    Er ging ins Schlafzimmer zurück und trat wieder ans Fenster. Schon liefen die ersten Spuren winziger Vogelfüße über den Schnee auf der Dachterrasse. Eine führte bis an den Rand und brach dann ab, als habe der Vogel nicht der Versuchung widerstehen können, sich mitten in all dieses Weiß hinabzustürzen. Ohne nachzudenken, öffnete er die Glastür und bückte sich, um den Schnee anzufassen, um festzustellen, ob er von der schweren nassen Sorte war, die sich gut zu Schneebällen verarbeiten ließ, oder eher trocken, so dass er beim Gehen vor einem aufstob.
    »Bist du von Sinnen?«, fragte hinter ihm eine entrüstete Stimme unter einem Kissen hervor. Ein jüngerer Brunetti hätte jetzt vielleicht eine Ladung Schnee ans Bett gebracht, aber der hier begnügte sich damit, mit einer Hand einen Abdruck in den Schnee zu machen. Jetzt wusste er, der Schnee war trocken.
    Er schloss die Tür und setzte sich aufs Bett. »Es hat geschneit«, sagte er.
    Er hob die Hand, die den Abdruck im Schnee hinterlassen hatte, und ließ sie über Paolas Schulter schweben. Obwohl sie von ihm abgewandt lag und ein Kissen überm Kopf hatte, konnte er sie deutlich hören: »Wenn du diese Hand auch nur in meine Nähe bringst, lasse ich mich scheiden und nehme die Kinder mit.«
    »Die sind alt genug, darüber selbst zu bestimmen«, antwortete er gelassen wie ein Olympier.
    »Ich koche«, sagte sie.
    »Stimmt«, gab er seine Niederlage zu.
    Sie fiel ins Koma zurück, und Brunetti ging duschen.
    Als er eine gute halbe Stunde später die Wohnung verließ, hatte er den ersten Kaffee intus und sogar an seinen Schal gedacht. Und er hatte Stiefel mit Gummisohlen angezogen. Der feine weiche Schnee lag bis zur nächsten Wegkreuzung unberührt vor ihm. Brunetti schob die Hände in die Manteltaschen und glitt mit einem Fuß vorwärts - um zu testen, wie rutschig das Pflaster

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