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Brunetti 18 - Schöner Schein

Brunetti 18 - Schöner Schein

Titel: Brunetti 18 - Schöner Schein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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war, gaukelte er sich vor. Kein bisschen, stellte er erfreut fest: Man ging wie auf Daunenfedern. Nun kickte er bei jedem Schritt und trieb den Schnee in dicken Wolken vor sich her.
    An der Kreuzung drehte er sich um und betrachtete stolz sein Werk. Viele Leute waren schon Richtung Campo gegangen, dort war der Schnee völlig zertrampelt, ja, es gab schon kahle Stellen, wo er wieder zu schmelzen begann. Die Passanten bewegten sich steif und vorsichtig wie Matrosen, die gerade in See gestochen und noch nicht sicher auf den Beinen waren. Dennoch war es Freude, nicht Ängstlichkeit, was er in den meisten Gesichtern sah: wie nach Schulschluss, und jetzt durften sie draußen spielen. Die Leute lächelten sich zu, und jeder hatte etwas über den Schnee zu sagen.
    Er kam zu seinem Stammkiosk und kaufte den
    Gazzettino. »Alter Rückfalltäter«, sagte er zu sich selbst, während er die Zeitung entgegennahm. Auf der Titelseite stand ein kleiner Artikel über den Mord in Marghera: nur zwei Sätze und der Hinweis, auf Seite eins des zweitens Teils gehe es weiter. Er schlug auf und las, man habe im Industriegebiet von Marghera die Leiche eines bisher unbekannten Mannes gefunden. Der Mann sei erschossen und im Freien liegen gelassen worden; ein Nachtwächter habe die Leiche entdeckt. Die Carabinieri gingen verschiedenen Spuren nach und hofften, den Toten bald identifizieren zu können.
    Brunetti wunderte sich, wie beiläufig das geschrieben war, fast als ob der frei erfundene Wachmann täglich über Leichen stolpern würde. Es gab keine Beschreibung des Toten, keinen Hinweis auf den genauen Fundort oder darauf, dass er Carabiniere gewesen war. Brunetti hätte gern gewusst, wer diese Halbwahrheiten und Lügen in die Welt gesetzt hatte und warum.
    Am Fuß der Rialto-Brücke faltete er die Zeitung zusammen und klemmte sie unter den Arm. Auf der anderen Seite angekommen, konnte er sich nicht entscheiden, ob er weiter zu Fuß gehen oder das Vaporetto nehmen sollte. Schließlich nahm er das Boot, weil er von dort aus die schneebedeckte Piazza San Marco in Augenschein nehmen konnte.
    Er entschied sich für die schnellere Nummer 2, blieb an Deck und ließ sich, als sie den Canal Grande hinauffuhren, von der Verwandlung verzaubern, die über Nacht mit der Stadt vor sich gegangen war. Die Bootsstege waren weiß, die Planen auf den schlafenden Gondeln waren weiß; ebenso die kleineren, noch unbenutzten calli, die vom Canal Grande aus zu den verschiedenen Herzen der Stadt führten. Als sie an der Commune vorbeiglitten, fiel ihm auf, wie schmutzig der Schnee so viele Gebäude aussehen ließ; nur die ockerfarbenen und roten wirkten bei dem Kontrast noch ansehnlich. Der Palazzo Mocenigo erinnerte ihn daran, wie er dort einmal mit seinem Onkel gewesen war; warum, wusste er nicht mehr. Dann erschien rechts der Palazzo Foscari, filigraner Schnee auf allen Fenstersimsen. Links sah er den Palazzo Grassi, der zum reizlosen Lagerhaus für zweitklassige Kunst verkommen war; auf den Holzstufen der Accademia-Brücke hielten die Leute sich am Geländer fest. Als sie unter der Brücke hindurchgefahren waren, blickte er zurück und beobachtete das Gleiche auf der anderen Seite: Offenbar war Holz viel tückischer als Stein, besonders wenn man beim Gehen das Gefühl hatte, nach vorn zu kippen.
    Dann erreichten sie die Piazzetta, und die Blendung durch den Schnee zwischen Bibliothek und Palast war so stark, dass Brunetti sich eine Hand vor die Augen halten musste. Der gute alte San Teodoro stand noch immer auf seiner Säule und stieß mit seinem Speer nach dem Kopf des winzigen Drachen, der ihm zu entkommen suchte - vergeblich selbst jetzt, wo Teodoro durch den Schnee behindert war.
    Auf den weißen Kuppeln zeigten sich erste dunkle Flecken, schon schmolz der Schnee in der Morgensonne. Überall tauchten Heilige auf, ein Löwe flog vorbei, Boote hupten einander zu, und Brunetti schloss vor Wonne die Augen.
    Als er sie wieder aufmachte, hatten sie die Brücke erreicht, auf der sich selbst zu dieser Stunde Scharen von Touristen drängten, die sich alle an der Stelle fotografieren lassen wollten, wo so viele Menschen ein letztes Mal haltgemacht hatten, bevor sie ins Gefängnis, in die Folterkammer oder zur Hinrichtung geführt worden waren.
    Hier war der Schnee schon fast weg, und als er bei San Zaccaria ausstieg, war nur noch so wenig übrig, dass seine Stiefel ihm bloß noch lästig und peinlich waren.
    Der Wachmann am Eingang grüßte ihn träge. Brunetti

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