Brunetti 18 - Schöner Schein
beobachtet hatte, hatte er nicht auf Chemikalien reagiert, sondern auf Worte.
Die Barkasse schwenkte in den Rio di San Lorenzo und legte am Steg der Questura an. Brunetti sah in die Kabine, wo zwei Beamte sich von ihren Sitzen erhoben. Er fragte sich, ob sie auf der Rückfahrt von solchen Einsätzen miteinander redeten.
Er dankte dem Steuermann und sprang von dem noch schwankenden Boot. Als er an die Tür der Questura klopfte, ließ der Diensthabende ihn ein und sagte: »Commissario Griffoni ist in ihrem Büro, Signore.«
Er ging die Treppe hoch und folgte dem Licht am Ende des dunklen Flurs. An der Tür blieb er stehen, klopfte aber nicht an. »Kommen Sie rein, Guido«, sagte sie.
Eine Uhr an der Wand links von ihrem Schreibtisch sagte ihm, es war halb vier. »Wenn Sie mir einen Kaffee bringen, erschieße ich Patta und lasse Sie auf seinen Posten versetzen«, sagte sie und sah ihn lächelnd an.
»Als wir in diesem Job angefangen haben, hat uns niemand auf solche Sachen vorbereitet, stimmt's?«, sagte er und nahm ihr gegenüber Platz. »Was hat sie gesagt?«
Griffoni fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, eine Geste, die er oft am Ende von Besprechungen mit Patta an ihr beobachtet hatte: ein Zeichen, dass sie mit ihrer Geduld am Ende war. »Nichts.«
»Nichts? Wie lange waren Sie mit ihr zusammen?«
»Ich habe sie mit dem Boot hierhergebracht, aber sie hat kein Wort gesagt, hat sich nur bedankt, erst beim Steuermann, dann bei dem Mann, der ihr die Tür aufgehalten hat, und schließlich bei mir.« Sie hob die Hände an den Kopf, riss sich aber zusammen und sagte: »Auf meinen Hinweis, wenn sie wolle, könne sie ihren Anwalt anrufen, antwortete sie nur: ›Nein, danke. Ich warte lieber, bis es hell ist‹, wie eine Minderjährige, die man betrunken am Steuer erwischt hat und die nicht will, dass man ihre Eltern weckt.« Sie schüttelte den Kopf, entweder über ihren Vergleich oder über Marinellos Verhalten.
»Ich habe ihr gesagt, wenn ihr Anwalt käme und sie in meiner Gegenwart eine Aussage mache, könne sie nach Hause gehen, aber sie bestand darauf, mit Ihnen zu reden. Sie war ausgesprochen höflich - was ich sehr sympathisch fand -, wollte aber partout nichts sagen, und ich habe weiter nichts aus ihr herausbekommen. Ich bin mit keiner Frage zu ihr durchgedrungen. Das ist wirklich seltsam. Und dann dieses Gesicht.«
»Wo ist sie jetzt?«, fragte Brunetti, der eine Debatte über dieses Thema vermeiden wollte.
»Unten, in einem der Besprechungszimmer.«
Normalerweise wurden diese Zimmer »Verhörraum« genannt. Brunetti fragte sich, warum sie diese weniger bedrohlich klingende Bezeichnung wählte, aber auch darüber wollte er mit ihr nicht reden.
»Ich gehe runter«, sagte er und hielt ihr im Aufstehen die Hand hin. »Geben Sie mir bitte den Schlüssel?«
Sie hob in einer ohnmächtigen Geste die Hände. »Die Tür ist nicht abgeschlossen. Sie hat sich gleich hingesetzt, ein Buch aus ihrer Tasche genommen und angefangen zu lesen. Ich habe es nicht über mich gebracht, die Tür abzuschließen.« Brunetti lächelte. Ihre Schwäche war ihm sympathisch. »Außerdem ist Giuffre unten, und sie müsste an ihm vorbei, wenn sie verschwinden wollte.«
»In Ordnung, Claudia. Vielleicht sollten Sie nach Hause gehen und ein wenig schlafen. Ich danke Ihnen. Danke, dass Sie heute Nacht gekommen sind.«
Sie konnte ihre Nervosität nicht verbergen. »Haben Sie immer noch dieses Geräusch in den Ohren?«
»Nein. Sie?«
»Kaum. Nur noch ein schwaches Rauschen. Schon viel besser, aber ein bisschen ist noch da.«
»Gehen Sie schlafen, und morgen früh erzählen Sie den Leuten im Krankenhaus, was passiert ist. Vielleicht können die Ihnen was sagen.« »Danke, Guido, das werde ich tun«, sagte sie und knipste ihre Schreibtischlampe aus. Sie stand auf, Brunetti half ihr in den Mantel und ließ ihr dann an der Tür den Vortritt. Schweigend gingen sie die Treppe hinunter. Unten sagte sie gute Nacht. Brunetti drehte sich um und schritt auf das Licht zu, das aus einem der hinteren Räume fiel.
Er blieb stehen und spähte hinein, und Franca Marinello sah von ihrem Buch auf.
»Guten Morgen«, sagte er. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen.«
»Oh, schon gut. Ich schlafe ohnehin nicht mehr viel, und ich hatte ein Buch dabei, also was soll's.«
»Aber zu Hause würden Sie sich wohler fühlen.«
»Ja, stimmt natürlich. Aber ich dachte, vielleicht ist es wichtig für Sie, noch heute Nacht mit mir zu reden.«
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