Brunetti 18 - Schöner Schein
vorbeikommen?«, fragte Brunetti.
»Komm, wann immer du Zeit hast, Guido«, sagte sie.
Er drehte sich nach dem Wecker auf dem Nachttisch um und stellte erstaunt fest, dass es schon nach eins war. »In etwa einer halben Stunde bin ich da; das heißt, wenn es dir passt.«
»Aber ja, Guido, natürlich. Ich warte auf dich.«
Als sie aufgelegt hatte, warf Brunetti die Decke zurück, ging unter die Dusche und rasierte sich. Bevor er das Haus verließ, sah er im Kühlschrank nach und fand noch etwas Lasagne von gestern. Er stellte sie auf die Anrichte, nahm eine Gabel aus der Schublade, aß den größten Teil auf, legte die Gabel in die Spüle, zog die Plastikfolie über den kümmerlichen Rest Lasagne und stellte sie in den Kühlschrank zurück.
Zehn Minuten später läutete er am Palazzo und wurde von einem Mann im dunklen Anzug, den er nicht kannte, ins Arbeitszimmer der Contessa geführt.
Sie begrüßte ihn mit Wangenküssen, setzte ihm so lange zu, bis er einen Kaffee wollte, und bat den Mann, der Brunetti zu ihr geführt hatte, caffe und biscotti für sie beide zu bringen. »Du kannst doch nicht ohne Kaffee zur Arbeit gehen«, sagte sie. Sie nahm in ihrem Lieblingssessel Platz, von dem sie über den Canal Grande sehen konnte, und klopfte mit einer Hand auf den Sessel neben sich.
»Also, worum geht's?«, fragte sie, als er sich setzte.
»Franca Marinello.«
Sie schien nicht überrascht. »Jemand hat mich angerufen und mir davon erzählt«, erklärte sie sachlich; dann aber wurde ihre Stimme weicher: »Das arme Mädchen, das arme Mädchen.«
»Was hat man dir erzählt?« Er hätte zu gern gewusst, wer sie angerufen hatte, wollte aber nicht danach fragen.
»Dass sie gestern Abend im Casinò in eine gewalttätige Auseinandersetzung geraten sei und von der Polizei zur Vernehmung mitgenommen wurde.« Als von Brunetti keine Erklärung kam, fragte sie: »Du weißt davon?«
»Ja.«
»Was ist passiert?«
»Sie hat auf einen Mann geschossen.«
»Er ist tot?«
»Ja.«
Sie schloss die Augen, und Brunetti hörte sie etwas flüstern, ein Gebet vielleicht oder etwas anderes. Er glaubte das Wort »Zahnarzt« zu hören, aber das war wohl ein Irrtum. Sie schlug die Augen auf und sah ihn an. Mit wieder kraftvoller Stimme sagte sie: »Erzähl mir, was passiert ist.«
»Sie war im Casinó, mit einem Mann. Er hat sie bedroht, sie hat ihn erschossen.«
Sie überlegte. »Du warst da?«
»Ja. Aber wegen des Mannes, nicht wegen ihr.«
Wieder schwieg die Contessa lange, ehe sie fragte: »War das dieser Terrasini?«
»Ja.«
»Und du weißt genau, dass Franca ihn erschossen hat?« »Ich habe es gesehen.«
Die Contessa schloss kopfschüttelnd die Augen.
Jemand klopfte an, und diesmal kam eine Frau ins Zimmer, schlicht und unpersönlich gekleidet, jedoch ohne weiße Schürze. Sie stellte zwei Tassen Kaffee, ein Schälchen mit Zuckerwürfeln, zwei kleine Gläser Wasser und einen Teller Gebäck auf den Tisch vor ihnen, nickte der Contessa zu und ging - Die Contessa reichte Brunetti seinen Kaffee, wartete, während er zwei Zuckerwürfel hineintat, und nahm dann ihren, den sie ohne Zucker trank. Sie stellte die Tasse auf die Untertasse zurück und sagte: »Ich habe sie kennengelernt oh, vor vielen Jahren -, als sie zum Studium hier in die Stadt kam. Ruggero, ein Cousin von mir, hatte einen Sohn, und der war der beste Freund von Francas Vater. Auch mütterlicherseits gab es Verbindungen«, fing sie an, brach dann aber mit einem Seufzer ab.
»Aber dass wir verwandt sind, spielt keine Rolle, nicht wahr? Als sie zum Studieren hierherkam, rief Ruggeros Sohn mich an und bat mich, ein wenig auf sie aufzupassen.« Sie nahm eins von den biscotti, legte es aber gleich wieder auf den Teller zurück.
»Orazio hat gesagt, ihr seid Freunde geworden.«
»Ja, das stimmt«, bestätigte die Contessa und lächelte mühsam. »Und das sind wir immer noch.« Brunetti fragte nicht weiter nach, und sie fuhr fort: »Paola war nicht mehr da. Verheiratet. Mit dir. Schon seit Jahren, aber wie es aussieht, habe ich mich immer noch nach einer Tochter im Haus gesehnt. Gewiss, sie ist jünger als Paola, also habe ich mich wohl eher nach einer Enkelin gesehnt. Jedenfalls war sie eine junge Person.« Nach kurzer Pause fuhr sie fort: »Sie kannte praktisch keinen Menschen hier und war so furchtbar schüchtern; man musste ihr einfach helfen.« Sie sah Brunetti an. »Das ist sie immer noch, oder?«
»Schüchtern?«, fragte Brunetti.
»Ja.«
»Ich denke schon,
Weitere Kostenlose Bücher