Brunetti 18 - Schöner Schein
mein Gesicht.«
Sie warf ihm einen letzten Blick zu, zeigte so etwas wie ein Lächeln und kehrte zu ihrer Lektüre zurück.
Brunetti war froh, dass sie ihre Aufmerksamkeit von ihm abgewandt hatte. Ihm fiel nichts mehr ein, keine Antwort, keine Frage.
Er wünschte ihr gute Nacht und ging nach Hause.
27
E r schlief. Um neun, kurz bevor sie aufstehen und zur Uni musste, versuchte Paola ihn zu wecken, aber nur mit dem Erfolg, dass er im Bett ein wenig näher zu ihr heranrückte. Etwas später läutete das Telefon, aber auch das drang nicht bis dahin durch, wohin Brunetti sich verkrochen hatte: an einen Ort, wo Pucetti zwei unversehrte Hände besaß, wo Guarino nicht tot im Schlamm und Terrasini nicht tot auf dem Marmorboden lag und wo Franca Marinello eine reizende junge Frau war, deren Züge sich bewegten, wenn sie lächelte oder lachte.
Gegen elf wachte Brunetti einmal auf und sah, dass es regnete. Er schlief wieder ein. Als er das nächste Mal aufwachte, schien die Sonne, und er fragte sich, ob er noch schlafe und das ein Traum sei. Er blieb noch etwas liegen, dann holte er langsam eine Hand unter der Decke hervor und freute sich, als er die Laken rascheln hörte. Er versuchte mit den Fingern zu schnipsen, bekam aber nur das Geräusch von zwei Fingern zustande, die sich rieben. Das jedoch hörte er deutlich, ohne Rauschen, und als er die Decke zurückschlug, vernahm er entzückt auch deren Rascheln.
Er stand auf, lächelte in die Sonne und akzeptierte, dass er duschen und sich rasieren musste. Vor allem aber brauchte er Kaffee.
Er trug den Kaffee ans Bett und stellte Tasse und Untertasse auf den Nachttisch. Dann stieg er aus seinen Pantoffeln, kroch unter die Decke zurück und zog seinen alten Ovid zwischen den Büchern neben ihm hervor. Er hatte das Buch vor zwei Tagen gefunden, aber keine Zeit gehabt, keine Zeit. Fasti. Was hatte sie gesagt? Irgendwas mit König. Er überflog das Inhaltsverzeichnis und fand es: »Die Flucht des Königs«, ein Fest, das am 24. Februar begangen wurde. Er deckte sich zu, nahm das Buch in die rechte Hand, trank einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse hin und begann zu lesen.
Nach wenigen Sätzen glaubte er die Geschichte wiederzuerkennen: Stand das nicht bei Plutarch, und hatte Shakespeare das nicht irgendwo verwendet? Der böse Tarquinius, der letzte König von Rom, aus dem Amt gejagt vom gemeinen Volk, an dessen Spitze der edle Brutus schritt, um den Tod der schönen Lucretia zu rächen, die Selbstmord begangen hatte, nachdem der noch bösere Sohn des Königs sie vergewaltigt und den guten Ruf ihres Mannes zu zerstören gedroht hatte.
Er las die Passage noch einmal, klappte das Buch dann sachte zu und legte es neben sich auf die Decke. Er trank den Kaffee aus, rutschte tiefer in die Kissen und schaute aus dem Fenster in den klaren Himmel.
Antonio Terrasini, Neffe eines Camorra-Bosses. Antonio Terrasini, verhaftet wegen Vergewaltigung. Antonio Terrasini, fotografiert von einem Mann, der später bei einem vorgetäuschten Raubüberfall erschossen wurde, das Foto im Besitz eines Mannes, der auf ähnliche Weise ums Leben gekommen war. Antonio Terrasini, mutmaßlicher Geliebter der Frau eines Mannes, der irgendetwas mit dem ersten Opfer zu tun hatte. Antonio Terrasini, von ebendieser Frau erschossen.
Während Brunetti aus dem Fenster sah, versuchte er diese Personen und Gegebenheiten in eine logische Ordnung zu bringen, ergänzte hier und da ein Detail aus seiner Erinnerung, wischte verschiedene Spekulationen beiseite und ersetzte sie durch andere, die sie in einen neuen Zusammenhang brachten.
Er erinnerte sich an die Szene am Spieltisch: die Hand des Mannes auf ihrer Hüfte, und wie sie ihn da angesehen hatte; seine Hände auf ihren Brüsten, und wie sie sich ihm nicht entzogen hatte, obwohl ihr ganzer Körper von ihm wegzustreben schien. Brunetti hatte sie im Profil gesehen, als sie ihn erschoss, aber ihr starres Gesicht verriet ja nichts. Also ihre Worte: Mit welchen Worten hatte sie den Zorn dieses Mannes erregt, dann beschwichtigt, dann wieder entflammt?
Brunetti griff nach dem Telefon und wählte die Privatnummer seiner Schwiegereltern. Eine Sekretärin meldete sich, er nannte seinen Namen und verlangte die Contessa zu sprechen. Brunetti hatte im Lauf der Jahre gelernt, bei solchen Gelegenheiten die offiziellen Titel zu verwenden: Offenbar wurde er dann schneller verbunden.
»Ja, Guido?«, sagte sie.
»Könnte ich auf dem Weg zur Arbeit einmal kurz bei dir
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