Buch des Flüsterns
vor allem durch Betasten und Riechen. Und ich war nicht allein. Zwischen den Seiten sah ich manchmal ein rötliches Kerbtierchen. Lass es leben, bremste mich Großvater. Es ist der Bücherskorpion. Jede Welt muss ihre eigenen Lebewesen haben. Auch ein Buch ist eine Welt. Das Geschick dieser Lebewesen ist es, sich von den Sünden und Fehlern der Welt zu ernähren. So auch dieser Skorpion, er rückt die Fehler im Buch zurecht. Ich glaubte ihm lange nicht. Nun aber bin ich der Erzähler, eine Art Schreiber, der die alten Fehler geradezurücken versucht. Also bin ich ein Bücherskorpion.
Und dann der andere Geruch, der meine Kindheit weit weg und zwischen die Spezereien des Orients gelenkt hat: der Duft des Kaffees. Diese Fertigkeit hatten meine Großeltern aus ihrer anatolischen Heimat mitgebracht. Sie bereiteten den Kaffee völlig selbstverständlich zu, etwa so, wie der Handwerker am Geschmack erkennt, ob der Ton sich zum Modellieren eignet oder nicht. Sie gingen ehrerbietig vor, verachteten aber diejenigen, die den Kaffee tranken, ohne seinen Sinn zu kennen.
Vor allem kauften meine Großeltern keinen gerösteten Kaffe oder – Gott bewahre! – gemahlenen. Wir hatten eine Kupferpfanne, die vom vielen Rösten schwarz geworden war. Im Deckel befand sich ein bestimmter Mechanismus, den man mit einer Kurbel in Bewegung setzte, und der dafür sorgte, dass die Bohnen gleichmäßig geröstet wurden. Auf kleiner Flamme dauerte dieser Vorgang etwa eine Stunde. Alles, was wir Kinder bekamen, waren die gerösteten Bohnen. Wir lutschten daran, als wären es Bonbons, und wenn das Aroma sich verlor, knackten wir sie mit den Zähnen auf und zerkauten sie.
Dann folgte das Mahlen. Auch heute noch sehe ich in snobistischen Sammlungen solche Mühlen, sie sind zylindrisch, haben einen gerundeten Deckel, sind vergoldet und mit Arabesken verziert. So stehen sie unter anderen nutzlos gewordenen Dingen, Samowaren etwa oder alten Kohlebügeleisen. In meiner Kindheit war diese Kaffeemühle ein Familienmitglied. Das Mahlen dauerte lange. Die Alten versammelten sich schon im Hof. Großmutter legte weiche Kissen auf die Holzbänke mit den schmiedeeisernen Armlehnen. Sie mahlten reihum und zählten dabei still bis hundert. Wer mahlte, mischte sich nicht ins Gespräch ein, damit er nicht den Faden verlor. Wenn er sich doch einmal einmischte, musste es sich um eine äußerst wichtige Angelegenheit handeln. Als sähe ich sie unter dem Aprikosenbaum im Hof: Großvater Garabet Vosganian, besonnen, mit seinem verschwenderischen Blick auf die Welt, Sahag Șeitanian, sein Schwager, ungestümer und etwas streitsüchtig, Anton Merzian, der Schuster, der immer die gleiche Geschichte erzählte – wie er seine Frau Zaruhi aus ihrem Elternhaus in Panciu gestohlen hat. Der etwa zwanzig Kilometer lange Weg bis Focșani, den er vor über vierzig Jahren reitend zurückgelegt hatte, war dem Erzähler so bedeutsam geworden wie die Flucht aus Ägypten. Jedes Mal schmückte er seine Geschichte neu aus, denn Zaruhi, taub wie Holz, konnte ihm nicht widersprechen. Dann war da noch Krikor Minasian, der andere Schuhmacher aus der Hauptstraße, mit dem Anton Merzian sich in hartem Wettstreit befand. Und schließlich Ohanes Krikorian und Arșag, der Rotschopf, Glöckner der armenischen Kirche und Vogeljäger. Und ringsum ihre dicklichen Frauen, die ihre Hände im Schoß liegen hatten und nach Kölnischwasser rochen. Arșaluis, meine Großmutter, ihre Schwester Armenuhi, dann Paranțem, Zaruhi und Satenig.
Das Mahlen dauerte etwa tausendfünfhundert Umdrehungen lang. Die Mühle wurde warm. Bis man sie nicht mehr in der Hand halten kann, sagte Großvater. Bis der Kaffee wie Sand ist, fügte er hinzu. Dies aber nur, wenn Sahag Șeitanian nicht zugegen war. Er mochte keinen Sand.
Manchmal bekam auch ich die Mühle und durfte am Mahlstab drehen. Das Messing wurde heiß, und durch die Ritzen drang der Kaffeeduft. Ab und zu streute sich Großvater ein bisschen auf die Handfläche und schnupperte daran mit der Miene, die Detektive machen, wenn sie beschlagnahmte Narkotika untersuchen. Oftmals befahl Großvater noch eine Runde, und die Alten fügten sich, damit das duftende Pulver noch feiner wurde.
Dann folgte das Kochen des Kaffees. Der Topf verbreiterte sich konisch und hatte einen engen Hals. Damit die Dämpfe zusammengedrängt werden und der Kaffee singt, sagte Großvater. Je stärker die Dämpfe unter Druck geraten, umso geschmackvoller ist der Sud. Ab und zu wurde
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