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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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der Anführer und drehte seinen Blick dem Dorf zu, das am Fuße des Hügels in Flammen stand, und zum Leichnam seines Bruders. Weißt du, wie ich heiße? Mit tränentrüben Augen zeigte Großvater, dass er es nicht wisse. Der Anführer nannte seinen Namen und ließ ihn wiederholen. Dann fügte er hinzu: Du wirst leben! Bist groß genug zu verstehen. Sage allen Deinen, wer ich bin und was ich dir und deinem Volk angetan habe! Großvater konnte nicht glauben, dass er mit dem Leben davonkommen sollte. Erst nachdem er ihn mehrmals wie einen streunenden Hund mit den Stiefeln getreten hatte, entfernte er sich, anfangs noch ungläubig, dann aber rannte er auf seinen zitternden, aber schnellen Jünglingsbeinen davon. An diesem Anführer rächte er sich auf die einzige Art, mit der er es tun konnte. Er vergaß ihn nicht, aber er verschwieg seinen Namen für immer.
    Aus seinem Dorf war von keinem Überlebenden zu hören. Außer von seiner kleinen Schwester Satenig, die er jahrelang gesucht hatte, nachdem er in Craiova Kaufmann geworden war und für die Suche in den Waisenhäusern der fremden Glaubensgemeinschaften bezahlen konnte. Nach mehreren Jahren erhielt er eine Antwort von einem Waisenhaus für Mädchen in Aleppo. Er schickte Geld für sie und für eine Begleitperson. Damit ihr Begleiter sich überzeugen konnte, dass Großvater ihr Bruder war und sie ihm übergeben konnte, ließ er sich im Hafen von Constanța von beiden separat die Namen der Großeltern, Eltern und Geschwister nennen. Es klang wie eine Totenlitanei. Alle waren sie in einem Bergdorf bei Erzerum gestorben. Als der Beweis erbracht war, dass beide die gleichen Toten beklagten, vertraute der Begleiter sie ihm an. Satenig heiratete dann einige Zeit später in Brăila einen Kaufmann. Nach dem Krieg ging sie nach Amerika und starb dort. Ich kenne sie nur von Fotos.
    Großvater verbarg sich, wo er konnte. Ein paar anständige Türken, die seinen Vater gekannt hatten, versteckten ihn in einem Stall beim Vieh und heilten seinen Typhus. Er war unterwegs erkrankt, als er aß, was er finden konnte, und eingerollt wie die Viecher in der Kälte unter freiem Himmel schlief. Als er wieder bei Kräften war, gaben die Türken ihm eine Wegzehrung und einen Fes, den er sich aufsetzen sollte, damit ihn kein fremdes Auge erkannte. Großvater ging gen Mittag zu, schlug den Weg zum Berg Moses’ ein, zum Musa Dagh, wie er auf Türkisch heißt. Er hatte gehört, dorthin kämen französische Schiffe, um die armenischen Flüchtlinge aufzunehmen. Er ging nachts, mied die Straßen, hütete sich vor dem Galopp der kurdischen Banden und vor den Routen der Konvois mit Deportierten, die den Wüsten Mesopotamiens zustrebten. Und weiters erzählte Vetter Khoren, wie Großvater mit dem Fes im Schoß dasaß und weinte, dabei schaute er auf die Wasser des Euphrat, auf dem die Leichen trieben, und die Wasser waren schwer und rötlich geworden wie geflochtene Zöpfe, so wie in alter Zeit die Wasser von Babylon gewesen sein mussten. Hast du denn deinen Fes nicht weggeworfen?, fragte ich, nachdem Großmutter Sofia mir die Geschichte seines Weinens am Euphrat erzählt hatte. Warum?, fragte Großvater. Ich hatte ihn von menschlich empfindenden Türken bekommen, und er schützte mich immerhin vor der Sonne. Ich setzte ihn auf und ging weiter. Was weißt du schon? Ich musste leben. Dann stach Großvater sich in den Finger und zeigte mir den Blutstropfen. Nun will ich einmal sehen, ob du das aushältst? Ich hatte Angst, aber ich schämte mich auch für meine Angst. Mit geschlossenen Augen ließ ich mich stechen, dabei umklammerte und drückte ich meinen Finger, damit es nicht weh tue. Dann trat mein Blutstropfen heraus. Ich bin alt, und du bist ein Kind. Aber schau, dein Blut ist genauso lebendig wie meines. Das ist die Lebensfreude. Großvater liebte es, mitunter seine Erinnerungen zu schönen, und er redete deshalb auf etwas merkwürdige Weise vom Blut. Er war ein Philosoph des Blutes. Das Blut ist weniger unterwürfig als das Fleisch, sagte er. Deshalb spricht man von der Stimme des Blutes oder dem Fluch des Blutes. Und: Wenn das Blut müde wird, greifst du zum Stock. Sonst aber ist das Blut ein innerer Stock. Jedermann stützt sich auf sein Blut. Ein andermal sagte er: Das Blut kehrt immer wieder um, wie ein Tier mit nasser Schnauze, und beißt dir etwas ab. Es wird niemals satt. Behüte Gott, dass es einmal gesättigt ist. Manchmal ermahnte er mich: Vergiss nicht, dein Blut ist wie ein Schwert,

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