Buch des Flüsterns
rechneten. Manchmal stellte ich mir den Bindfaden wie ein dickes Seil vor, das an einer Glocke hängt. Der Wind konnte es schaukeln oder der Arm eines einsamen Reisenden. Dann hätte die Glocke geschlagen. Ich habe mir den Glockenton immer wie die passendste Stimme meines Volkes vorgestellt. Jeder Knoten, festgezogen und geschlossen wie eine Faust, wäre einer meiner Urahnen gewesen. Das Seil war eigentlich eine Aneinanderreihung von geballten Fäusten. Dann stellte ich gemeinsam mit Großvater Setrak die Chronik auf. Der Erste war Melic, dachten wir. Der Knoten gleich unterhalb der Glocke. So nah, dass ihm die Glocke mitunter wie ein galoppierendes Pferd klang. Der Nächste wäre mein Ururgroßvater Haciadur gewesen. Ein stattlicher und reicher Mann, der nach Konstantinopel geritten kam. Die Kaufleute kannten ihn und baten ihn herein. Großvater erzählte von dem silbernen Teeservice mit vergoldeten Henkeln, das drei Generationen benutzt hatten, und vom verwunderten Blick eines Kaufmanns, der sah, wie viel Geld einer bei sich tragen kann. Ansonsten war Ururgroßvater Haciadur ein bedächtiger Mann. Obwohl sie von erlesener Abkunft waren, begnügten sich die Geschlechter der Melichians mit dem rauhen Leben der Hirten.
Mein Urgroßvater David Melichian war ein gelehrter Mann. Er hatte in Konstantinopel die Schule besucht, das Robert College. Er schrieb Gedichte und hatte eine so schöne Handschrift, dass die Leute aus den umliegenden Dörfern und sogar aus Erzerum zu ihm kamen, damit er ihre Abmachungen aufschreibe. David Melichian war der Anführer des Gebiets, etwa das, was heute ein Bürgermeister ist. Als im Frühjahr 1915 die Janitscharen kamen, steckten sie ihn in ein Haus, dessen Grundmauern man eben hochzuziehen begonnen hatte, und brachten ihn mit Steinwürfen um. Auf diese Weise wurden auch andernorts die armenischen Vorsteher umgebracht. Offenbar redeten die alten Leute deshalb eher vom Dach als vom Himmel, wenn sie die Ränder der Welt benannten. Ein Kind ohne Eltern ist wie ein Haus ohne Dach. Nichts ist schlimmer als ein ungedecktes Dach. Von dort kann der Tod herkommen.
Großvater Setrak kannte sein Geburtsjahr nicht mit Sicherheit. Er wusste bloß, dass er zur Zeit der Mahd geboren war, und dies schien ihm ausreichend. Später dann, als die Jahre für ihn allmählich einen Sinn bekamen, sollte er sagen, er sei mit dem Jahrhundert geboren worden. So ließ es sich leichter zählen.
Sie waren fünf Geschwister: zwei Buben und drei Mädchen. Macruhi, die älteste Schwester, hatte nach Erzerum geheiratet. Dann folgten Harutiun, Maro, Großvater und die Kleinste, Satenig. Macruhi starb zur Zeit der Massaker. Eines Nachts hatten sich die türkischen Soldaten zurückgezogen und den Konvoi mit den Deportierten auf dem Weg nach Aleppo den kurdischen Banden zum Ausplündern überlassen. Macruhi und ihr Mann wurden abgeschlachtet. Von ihrem kleinen Kind hat man nichts mehr gehört.
Die Melichians lehnten es ab, sich den Konvois anzuschließen, die nach Deir-ez-Zor zogen, und als die Soldaten das Dorf umzingelt hatten, wurde Maro mit ein paar weiteren Mädchen abgeholt. Eines Nachts aber gelang ihr die Flucht, und noch bevor die Wächter es merkten, hatte sie sich von den Felsen in den Euphrat gestürzt. Zur Erinnerung an sie taufte Großvater seine älteste Tochter auf den gleichen Namen, Maro.
Großvater hatte sich zusammen mit seiner Großmutter, der Frau von Haciadur, in Erzerum bei Verwandten befunden. Als sie zurückkehrten, sahen sie das brennende Dorf. Harutiun, der größere Bruder, kam ihnen entgegen und erzählte, welche Grausamkeiten sich dort zutrugen. Ihre Großmutter empfahl ihnen zu fliehen, sie war zu alt, als dass sie ihnen hätte folgen können. Sie versteckten sich im Wald. Aber sie stellten sich zu ungeschickt an und wurden gefangen. Diesen Teil hatte Großvater nur einmal in seinem Leben erzählt. Wir wissen es von unserem Vetter Khoren, der unter ganz bestimmten Umständen davon erfahren und es weitererzählt hat. Damals hat der Anführer der Janitscharen sie zu sich bringen lassen und ihnen befohlen, niederzuknien. Dann zog er das Schwert und brachte Harutiun, den größeren Bruder, um. Im Armenischen bedeutet Harutiun Auferstehung. Vielleicht irgendwann, wer weiß ...
Dann ging er auf den zu, der mein Großvater werden sollte und nun weinte, die Augen zu Boden gerichtet. Er zerrte ihn an den Haaren, bis der Bursche genötigt war, ihm ins Gesicht zu schauen. Sieh mich gut an, befahl
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