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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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wieder ein. Ein ganzes Leben könnte anhand seiner Geruchsaromen beschrieben werden. Ebenso könnte meine Kindheit erzählt werden.
    Allen voran der Duft von weichem Teig. Müsste ich meine Kindheit in einer einzigen Formel konzentrieren, würde ich »Teig« sagen. Und zwar der warme Teig in Großmutters Zuber. Er quoll von abends bis morgens wie ein lebendiges Wesen. Ich war fasziniert. Und dermaßen an das in ihm heranwachsende Leben gebunden, dass ich spüren konnte, wie jede Bewegung der ihn knetenden Hände ihn schmerzte. Ich beruhigte mich erst, wenn ich sah, wie Großmutter Arșaluis, auf Rumänisch Aurora, und ihre Schwester Armenuhi ihn ausbreiteten und streichelten, bis er sich zu feinsten Blättern verwandelte. Die Frauen breiteten glatte Leintücher über Betten und Tische und zogen darüber die feinen Teigbahnen für die Baklava aus.
    In solchen Nächten schliefen wir aneinandergekauert auf den Kanapees. Die Teigblätter durften weder durch eine Bewegung noch durch Lärm gestört werden. Vorsichtig und flüsternd bewegten wir uns zwischen ihnen hindurch. Ab und zu wachte Großmutter auf und bestrich sie beim Licht der Petroleumlampe mit einer Mischung aus Öl und Ei. Am Morgen dann, sie waren trocken wie Tonplatten und raschelten wie Heu vom letzten Jahr, wurden sie übereinandergelegt. Zwischen die Teigblätter wurden gemahlene Nüsse gestreut und darüber wurde warmer Sirup gegossen. Die Ränder wurden abgeschnitten, sodass die Blätter die Form der Platten annahmen, in denen sie dann langsam im Backofen gebräunt wurden. Beim sonntäglichen Mittagessen zerschnitt Großvater Garabet die Baklava mit einem großen Messer und verteilte sie gleichmäßig.
    Das gleiche Messer wurde auch zum Schneiden des getrockneten Rindfleischs benutzt, das wir türkisch
Pastârma
nannten. Das Fleisch wurde unter das Vordach des Hauses gehängt, damit der Wind es trockne und das Licht ihm Süße gebe. Von allem, so Großvater, ist der Windgeschmack am besten. Man muss es verstehen, ihn ins Essen eindringen zu lassen. Das trockene Fleisch wurde zum Aufweichen in eine Paste gelegt, die
Cemen
hieß und direkt aus Jerewan geschickt wurde. Großvater nahm das Messer und schnitt die erste Scheibe ab. Ich ging hinaus in den Hof und schaute durch die Scheibe rötlichen Fleisches. Man kann den Mond nicht sehen, sagte ich. Und Großvater: Das ist nicht gut. Er wetzte das Messer am nassen Stein und schnitt eine weitere Scheibe ab. Von den Strahlen des Mondes durchdrungen, nahm das dünne Fleisch eine gelbliche Farbe an. Nun sieht man ihn, sagte ich. Dann ist es gut, befand Großvater. Licht und Wind sind, zusammengenommen, am schmackhaftesten. Da ist die Frucht bestens gereift, und das Fleisch lässt sich so schneiden, wie es sich gehört.
    Der Duft der Früchte füllte das ganze Haus. Vor allem zu Neujahr, wenn für die Armenier noch das Weihnachtsfasten gilt und in großen Schüsseln
Anu
ș
-Abur
gekocht wird. Was übersetzt süße Suppe bedeutet. Es ist eine Art Opferbrei, nur dass in den gekochten Weizen allerhand Früchte gemischt werden: Feigen, Datteln, Rosinen, Nüsse, Orangen. Und darüber streut man zu Pulver zermahlene Gewürznelken.
    Dann der Geruch der Schlupfwinkel. Verborgene Orte, düster verschattet oder frei sich dem Blick darbietend, die sich aber selten öffnen, und, noch verlockender, die verbotenen Orte. Ohne Schlupfwinkel, durch die man stromern kann, hat eine Kindheit keinen Sinn. Nur was verborgen ist, lohnt gesehen zu werden. Zum Geruch der Schlupfwinkel tritt die Stille, die ihrerseits auch ihre Gerüche hat. An erster Stelle die Kleiderschränke, auf deren Boden die zusammengefalteten Bettdecken und Strohsäcke lagen. In Großmutters Schrank wurden nur die schweren Kleidungsstücke aufbewahrt, Wintermäntel, die nach Naphtalin rochen, und von denen einige sogar noch meiner Urgroßmutter Heghine Terzian gehört hatten. Von den Kleidern meines Urgroßvaters konnte nichts aufbewahrt werden, alles war auf einer Straße in Konstantinopel geblieben, in der man die Sonne über dem Bosporus untergehen sah. Sie waren eines Nachts mit den Kleidern geflohen, die sie an sich trugen, und hatten nur ein paar Bündel dabei, in denen sie in aller Eile ein paar leicht verkäufliche Dinge verstaut hatten. Das Gerücht hatte die Runde gemacht, am Hafen von Pera habe ein Schiff angelegt, das armenische Flüchtlinge an Bord nehme. Als er die Brücke hochstieg, ging mein Urgroßvater inmitten der verstörten und verängstigten

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