Buch des Todes
schmutzig, abstoßend und widerwärtig. Selbst für einen abgebrühten Ermittler wie ihn. Beim Anblick einer Leiche dachte er immer an den Täter und fragte sich: Du arme, verlorene Seele, hättest du uns das nicht auch auf andere Weise mitteilen können?
Was der Mörder ihnen mit dem Mord an Gunn Brita Dahle sagen wollte, wussten die Götter. Diese Tat glich nichts, was ihm bisher untergekommen war. Er dachte an all die Fernsehkrimis, an psychotische Mörder, Serientäter, Menschen, die einzig um des Mordens willen töteten und der Meinung waren, der Tod allein reiche nicht aus, und ein ganzes Schauspiel um ihre Taten inszenierten. Dieser Mord schien in die Kategorie der Morde zu gehören, bei denen die Tat selbst das eigentliche Motiv war. In erster Linie aber musste er an die Jagd denken.
Sein Kollege Thorvald Jensen hatte ihn schon häufiger im Herbst mit auf die Jagd genommen. Singsaker war kein begeisterter Jäger, aber Jensen schaffte es immer wieder, ihn zu überreden, nicht zuletzt, weil der Aquavit im Herbstwald wirklich am besten schmeckte. Er hatte Hirsche und Elche ausgeweidet und gehäutet an dicken Ästen hängen sehen, bevor sie zerteilt wurden. Er war überrascht, wie sehr der menschliche Körper dem eines Tieres glich, wenn der Kopf entfernt und die Haut abgezogen war. Gunn Brita Dahle sah aus wie Wildbret, mit dem Unterschied, dass sie nicht aufgehängt worden und ihr Blut nicht zwischen Moos und Flechten versickert war, sondern eine Lache bildete, die fast jeden Quadratzentimeter des Raumes einnahm.
Das Telefon klingelte. Er war mit seinen Gedanken zu weit weg, um einen Blick auf das Display zu werfen, um zu überprüfen, wer anrief. Vermutlich dachte er in diesem Augenblick nicht einmal an die Möglichkeit, von anderen als Kollegen kontaktiert zu werden.
»Hier ist Lars«, sagte eine Stimme, die ihm nicht so fremd sein sollte, wie sie klang.
»Lars?«, fragte er unsicher.
»Ja, Lars, dein Sohn.« Beleidigte Stille.
»Oh, tut mir leid. Ich war gerade ziemlich in Gedanken. Bin den ersten Tag wieder im Dienst.«
»Geht es dir gut?«, fragte Lars und versuchte fröhlich zu klingen.
»Wenn du nach dem Tumor fragst, ja. Was den Rest meines Lebens angeht, bin ich mir nicht so sicher.«
Singsaker ahnte an dieser Stelle, dass sein Sohn ihn bestimmt zu gern darauf hinweisen würde, dass sein Leben sicher besser wäre, wenn er wenigstens ein Minimum an Kontakt zu seiner engsten Familie halten würde.Aber er war zu vorsichtig für eine solche Äußerung. So war er schon immer gewesen, viel auf dem Herzen, aber bloß nichts sagen. Singsaker dachte oft, dass Lars ihn viel zu glimpflich davonkommen ließ. Hätte sein Sohn mehr von ihm verlangt, hätte er sicher auch mehr bekommen.Andererseits wusste er, dass es komplett falsch war, seinem Sohn die Schuld dafür zu geben.
Er wandte sich von der Leiche ab und blickte in den Aufenthaltsraum, der vor dem Sicherheitstrakt lag. Ein Bild von Lars als kleiner Junge flackerte vorbei. Der Junge lag im Bett und schlief. Er selbst war wieder einmal zu spät nach Hause gekommen, um ihm eine seiner spontan erfundenen Gutenachtgeschichten zu erzählen, die sie beide so liebten. Er wusste, dass Lars sich an den Abenden, an denen er fort war, so lange wie nur möglich wach hielt, um diese Gutenachtgeschichte nicht zu verpassen, denn das waren die schönsten Momente, die sie miteinander hatten. Es kam oft vor, dass er seinen erwachsenen Sohn in Gedanken als kleinen Jungen sah, schlafend, das Gesicht zur Tür gewandt, voller Erwartung. Nach all den Jahren, die seitdem vergangen waren, störte ihn an diesem Bild, dass es immer dann auftauchte, wenn Lars anrief, dass er tatsächlich noch heute an ihn als einen kleinen Jungen dachte, der beim Warten auf ihn eingeschlafen war. Dabei war Lars mittlerweile erwachsen, hatte eine Ausbildung zum Ingenieur hinter sich, war verheiratet und hatte Kinder bekommen. Er hatte kaum etwas davon mitbekommen, Lars’ Leben fand für ihn am Telefon statt.
»Ich rufe wegen der Taufe an.« Die vage Erinnerung, dass Lars einen Jungen bekommen hatte, meldete sich. Das musste etwa zu der Zeit gewesen sein, als er unters Messer gekommen war.
»Aha«, sagte er.
»Wir würden uns sehr freuen, wenn du diesmal kommen könntest«, sagte Lars.
»Wann soll das sein?«, fragte er und drehte sich wieder zu der Leiche um. Er hatte keine Ahnung, wann dieser Fall ihm so viel Luft lassen würde, dass er für ein Wochenende zu Lars nach Oslo reisen
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