Buch des Todes
Wortes: jovial, entspannt, und einer der besten in seinem Fach.
»Die Chefin will Vatten also im Präsidium sehen?«, fragte Jensen. »Ist ja nicht das erste Mal.«
»Sicher nicht dumm, die ganze Sache noch mal aufzufrischen, weder für mich noch für ihn«, sagte Singsaker.
Nachdem er die Spurensicherung oben im Sicherheitstrakt eingewiesen und den Rechtsmediziner empfangen hatte, der direkt von einer Vorlesung aus der Uniklinik gekommen war, ging Singsaker zurück in den Knudtzonsaal. Die Angestellten saßen noch immer angespannt nebeneinander. Nur Hornemann stand, als der Kommissar den Raum betrat. Er fragte sie, ob Jensen schon mit den Befragungen begonnen habe. Das hatte er. Dann versicherte er allen, dass es nicht lange dauern würde, sie müssten sich nur einen Überblick verschaffen, was am Wochenende und in den frühen Morgenstunden in der Bibliothek geschehen war. Danach dürften alle nach Hause. Sie seien sich durchaus im Klaren darüber, wie belastend dieses Vorgehen für jeden Einzelnen sei, aber es müssten jetzt alle zusammenarbeiten, damit die Polizei so schnell wie möglich den Täter finden könne. Seine kurze Ansprache wurde mit murmelnder Zustimmung goutiert, und er dachte, dass Jensen ihnen vermutlich vor Kur zem etwas Ähnliches gesagt hatte. Dann wandte er sich direkt an Jon Vatten, der auf einem Stuhl nah bei der Tür saß:
»Hätten Sie Zeit, mit ins Präsidium zu kommen? Wir würden uns gerne etwas ausführlicher mit Ihnen unterhalten«, sagte er.
Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als er realisierte, dass er etwas diskreter hätte vorgehen müssen. Plötzlich waren alle Blicke aufVatten gerichtet. Natürlich kannten sie seine Vorgeschichte, wenn die meisten sie auch in Anbetracht ihrer täglichen Arbeit verdrängt hatten. Für sie war Vatten inzwischen nur noch ein ruhiger, aber verlässlicher Wachmann, der eine tragische Geschichte hinter sich hatte. Der Verdacht, der ihm damals angehaftet hatte, war mit der Zeit der friedlichen Zusammenarbeit abgeschliffen worden, wenn auch ein kleiner, nagender Zweifel überdauert hatte. Bis jetzt, denn vermutlich hatten inzwischen alle im Saal mitbekommen, dass Vatten Gunn Brita Dahle als Letzter lebend gesehen hatte, außerdem musste sie ja jemand in den Sicherheitstrakt gelassen haben. Plötzlich glich die Versammlung am Tisch einer Gruppe Geschworener, die im Begriff waren, ihr endgültiges Urteil zu fällen.Außer einer jungen Frau mit blonden Haaren und kleinen, aber zahlreichen Sommersprossen auf der Nase. Sie saß hinten am Tisch und sah Vatten mit einer Mischung aus Mitgefühl und Sorge an.
Sie wird die Nächste sein, mit der ich rede, dachte Singsaker, legte Vatten die Hand auf die Schulter und ging mit ihm aus dem Raum. Die Erinnerung an ihre frühere Begegnung kam langsam wieder zurück.
14
Trondheim, September 2010
D ie Überwachungskameras gingen Vatten nicht aus dem Sinn.Aus Erfahrung wusste er, dass die Polizei alles überprüfen und schon bald herausfinden würde, dass er am Samstag die DVD gewechselt hatte. Und auch das zähe Gefühl, das er an jenem Abend nach dem Aufwachen im Bü cherturm gehabt hatte, und die verschwommene Erinnerung an so etwas wie intimen Kontakt mit Gunn Brita, quälte ihn. Das ließ nur eine Schlussfolgerung zu, dachte er. Sollte Gunn Brita tatsächlich an diesem Samstag, nachdem er sich betrun ken und sein Gehirn sich ausgeschaltet hatte, getötet worden sein, und nicht am Sonntag, wie der Polizist vorgeschlagen hatte, hatte er ein massives Erklärungsproblem.
Vatten war freiwillig mit aufs Präsidium gekommen, fühl te sich aber schon wie verurteilt. Genau wie beim letz ten Mal.
Damals war er noch im alten Präsidium am Kalvskinnet, unweit seiner Arbeitsstelle, verhört worden. Der Vernehmungsraum war enger und kleiner gewesen, aber die Erinnerungen meldeten sich trotzdem, als er auf dem harten Stuhl in dem sterilen Raum Platz nahm.
Trondheim, Mai 2006
Severin Blom war Professor des Institutes für Geschichte und klassische Fächer am NTNU in Dragvoll. Er war einer der wenigen, wenn nicht der einzige Professor des Hauses, der im Großen und Ganzen alle Bücher gelesen hatte, die in seinem Regal standen. Sein Büro war ein geräumiges, recht helles Eckzimmer mit Aussicht auf die Sportfakultät und kurzer Entfernung zur Bibliothek. Er war auch einer der wenigen, wenn auch nicht der einzige Dozent in Dragvoll, der hin und wieder das Risiko einging, gegen alle Vorschriften heimlich in seinem Büro
Weitere Kostenlose Bücher