Buddenbrooks
zuwandte, und es schien, als ob er nicht nur die undelikaten Äußerungen tiefer und feierlicher Gefühle, sondern auch die Gefühle selbst fürchtete und mied.
Man hatte ihn noch keine Thräne über den Tod des Vaters vergießen sehen. Die lange Entwöhnung allein erklärte dies nicht. Das Merkwürdige aber war, daß er, im Gegensatze zu seinem sonstigen Widerwillen gegen derartige Gespräche, immer wieder seine Schwester Tony ganz allein bei Seite nahm, um sich von ihr die Vorgänge jenes fürchterlichen Sterbenachmittages so recht anschaulich und im Einzelnen erzählen zu lassen: denn Madame Grünlich erzählte am Lebhaftesten.
»Also gelb sah er aus?« fragte er zum fünften Male … »Was schrie das Mädchen, als es zu euch hereinstürzte? … Er sah also ganz gelb aus? … Und hat nichts mehr sagen können, bevor er {285} starb? … Was sagte das Mädchen? wie hat er nur noch machen können? ›Ua … ua‹? …« Er schwieg, schwieg lange Zeit, indes seine kleinen, runden, tiefliegenden Augen schnell und gedankenvoll im Zimmer umherirrten.
»Gräßlich«
, sagte er plötzlich, und man sah, daß ein Schauer ihn überlief, während er aufstand. Und immer mit unruhigen und grübelnden Augen ging er auf und nieder, während Tony sich wunderte, daß ihr Bruder, der sich aus unbegreiflichen Gründen zu schämen schien, wenn sie laut den Vater betrauerte, mit einer Art schauerlicher Nachdenklichkeit ganz laut die Todeslaute desselben wiederholen mochte, die er mit vieler Mühe von Line, dem Mädchen, erfragt hatte …
Christian hatte sich durchaus nicht verschönt. Er war hager und bleich. Die Haut umspannte überall straff seinen Schädel, zwischen den Wangenknochen sprang die große, mit einem Höcker versehene Nase scharf und fleischlos hervor, und das Haupthaar war schon merklich gelichtet. Sein Hals war dünn und zu lang, und seine mageren Beine zeigten eine starke Krümmung nach außen … Übrigens schien sein Londoner Aufenthalt ihn am nachhaltigsten beeinflußt zu haben, und da er auch in Valparaiso am meisten mit Engländern verkehrt hatte, so hatte seine ganze Erscheinung etwas Englisches angenommen, was nicht übel zu ihr paßte. Es lag etwas davon in dem bequemen Schnitt und dem wolligen, durablen Stoff seines Anzuges, in der breiten und soliden Eleganz seiner Stiefel und in der Art, wie sein rotblonder, starker Schnurrbart mit etwas säuerlichem Ausdruck ihm über den Mund hing. Ja selbst seine Hände, die von jenem matten und porösen Weiß waren, wie die Hitze es hervorbringt, machten mit ihren rund und kurzgeschnittenen sauberen Nägeln aus irgendwelchen Gründen einen englischen Eindruck.
»Sage mal …« fragte er unvermittelt, »kennst du das Gefühl … es ist schwer zu beschreiben … wenn man einen harten {286} Bissen verschluckt und es thut hinten den ganzen Rücken hinunter weh?« Dabei war wieder seine ganze Nase in straffe kleine Fältchen gezogen.
»Ja«, sagte Tony, »das ist etwas ganz Gewöhnliches. Man trinkt einen Schluck Wasser …«
»So?« erwiderte er unbefriedigt. »Nein, ich glaube nicht, daß wir dasselbe meinen.« Und ein unruhiger Ernst bewegte sich auf seinem Gesichte hin und her …
Dabei war er der Erste, der im Hause eine freie und der Trauer abgewandte Stimmung vertrat. Er hatte von der Kunst, den verstorbenen Marcellus Stengel nachzuahmen, nichts verlernt und redete oft stundenlang in seiner Sprache. Bei Tische erkundigte er sich nach dem Stadttheater … ob eine gute Truppe dort sei, was gespielt werde …
»Ich weiß nicht«, sagte Tom mit einer Betonung, die übertrieben gleichgültig war, um nicht ungeduldig zu sein. »Ich kümmere mich jetzt nicht darum.«
Christian aber überhörte dies völlig und fing an, vom Theater zu sprechen … »Ich kann gar nicht sagen, wie gern ich im Theater bin! Schon das Wort ›Theater‹ macht mich geradezu glücklich … Ich weiß nicht, ob Jemand von euch dies Gefühl kennt? Ich könnte stundenlang stillsitzen und den geschlossenen Vorhang ansehen … Dabei freue ich mich wie als Kind, wenn wir hier herein zur Weihnachtsbescherung gingen … Schon das Stimmen der Orchesterinstrumente! Ich würde ins Theater gehen, nur um
das
zu hören! … Besonders gern habe ich die Liebesscenen … Einige Liebhaberinnen verstehen es, den Kopf des Liebhabers so zwischen beide Hände zu nehmen … Überhaupt die Schauspieler … ich habe in London und auch in Valparaiso viel mit Schauspielern verkehrt. Zu Anfang war
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