Buddenbrooks
nichts Übles nachsagen … gut, ich weiß es! Aber das Eine muß ich denn doch aussprechen, und ich würde mich wundern, wenn das Leben dich das nicht gelehrt hätte, nämlich, daß nicht Alle, die einen langen Rock tragen und ›Herr, Herr!‹ sagen, immer ganz makellos sind!«
Es blieb unaufgeklärt, wie Thomas sich zu solchen Wahrheiten verhielt, die seine Schwester mit ungeheurem Nachdruck vertrat. Christian aber hatte gar keine Meinung; er beschränkte sich darauf, die Herren mit krauser Nase zu beobachten, um hernach im Klub oder in der Familie ihre Copie zu liefern …
Aber es ist wahr, daß Tony am meisten von den geistlichen Gästen zu leiden hatte. Eines Tages geschah es wahr und wahrhaftig, daß ein Missionar namens Jonathan, der sowohl in Syrien als auch in Arabien gewesen war, ein Mann mit großen, vorwurfsvollen Augen und betrübt herniederhängenden Wangen, vor sie hintrat und sie mit trauriger Strenge zur Entscheidung der Frage aufforderte, ob ihre gebrannten Stirnlokken sich eigentlich mit der wahren christlichen Demut vereinbaren ließen … Ach! er hatte nicht mit Tony Grünlichs spitzig sarkastischer Redegewandtheit gerechnet. Sie schwieg während einiger Augenblicke, und man sah, wie ihr Hirn arbeitete. Dann aber kam es:
»Darf ich Sie bitten, mein Herr Pastor, sich um Ihre eigenen Locken zu bekümmern?!«
… Und hinaus rauschte sie, indem sie die Schultern ein wenig emporzog, den Kopf zurückwarf und trotzdem das Kinn auf die Brust zu drücken suchte. – Und Pastor Jonathan besaß äußerst wenig Haupthaar, ja, sein Schädel war nackt zu nennen!
{309} Einst aber wurde ihr ein noch größerer Triumph zu Teil. Pastor Trieschke nämlich, Thränen-Trieschke aus Berlin, der diesen Beinamen führte, weil er allsonntäglich einmal inmitten seiner Predigt an geeigneter Stelle zu weinen begann … Thränen-Trieschke, der sich durch ein bleiches Gesicht, rote Augen und wahre Pferdekinnbacken auszeichnete und acht oder zehn Tage lang bei Buddenbrooks wechselweise mit der armen Klothilde um die Wette aß und Andachten abhielt, verliebte sich bei dieser Gelegenheit in Tony … nicht etwa in ihre unsterbliche Seele, o nein, sondern in ihre Oberlippe, ihr starkes Haar, ihre hübschen Augen und ihre blühende Gestalt! Und dieser Gottesmann, der zu Berlin ein Weib und viele Kinder besaß, entblödete sich nicht, durch den Bedienten Anton in Madame Grünlichs Schlafzimmer im zweiten Stock einen Brief niederlegen zu lassen, der aus Bibelextrakten und einer sonderbar anschmiegsamen Zärtlichkeit wirksam gemischt war … Sie fand ihn beim Zubettegehen, sie las ihn und ging festen Schrittes die Treppen hinunter ins Zwischengeschoß und ins Schlafzimmer der Konsulin, woselbst sie ihrer Mutter beim Kerzenscheine das Schreiben des Seelsorgers völlig ungeniert und mit lauter Stimme vortrug, so daß Thränen-Trieschke fortan in der Mengstraße unmöglich war.
»So sind sie Alle!« sagte Madame Grünlich … »Ha! so sind sie Alle! O Gott, ich war eine Gans früher, ein dummes Ding, Mama, aber das Leben hat mir das Vertrauen zu den Menschen genommen. Die Meisten sind Filous … ja, das ist leider wahr.
Grünlich
– –!« Und der Name klang wie eine Fanfare, wie ein kleiner Trompetenstoß, den sie mit etwas erhobenen Schultern und emporgerichteten Augen in die Luft hinein ertönen ließ.
{310} 6.
Sievert Tiburtius war ein kleiner, schmaler Mann mit großem Kopfe, und trug einen dünnen aber langen, blonden Backenbart, der geteilt war, und dessen Enden er manchmal, der Bequemlichkeit halber, nach beiden Seiten hin über die Schultern legte. Seinen runden Schädel bedeckte eine Unzahl ganz kleiner, wolliger Ringellöckchen. Seine Ohrmuscheln waren groß, äußerst abstehend, an den Rändern weit nach innen zusammengerollt und oben so spitz, wie die eines Fuchses. Seine Nase saß wie ein kleiner, platter Knopf in seinem Gesicht, seine Wangenknochen standen hervor, und seine grauen Augen, die gemeinhin eng zusammengekniffen ein wenig blöde umherblinzelten, konnten in gewissen Momenten sich in ungeahnter Weise erweitern, größer und größer werden, hervorquellen, beinahe herausspringen …
Dies war der Pastor Tiburtius, welcher aus Riga stammte, einige Jahre in Mitteldeutschland amtiert hatte und nun, auf der Reise nach seiner Heimat, wo eine Predigersstelle ihm zugefallen war, die Stadt berührte. Versehen mit der Empfehlung eines Amtsbruders, der ebenfalls einst in der Mengstraße Mocturtle-Suppe
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